Im Jahr 1836 veröffentlichte Puschkin in seiner Zeitschrift „Sovremennik“ ("Zeitgenosse") unter der Überschrift: “Gedichte, die aus Deutschland eingesandt worden sind”, 24 Gedichte von Fjodor Tjučev.
Puschkin schätze die Werke des unbekannten Autors hoch ein. Er charakterisierte ihn als einen „der Vertreter jener zeitgenössischen Dichtung, die sich durch die französische Literatur nicht beeinflussen lässt und sich immer mehr mit der deutschen Literatur anfreundet und sich eine stolze Unabhängigkeit vom Geschmack und von den Forderungen der Leserschaft bewahrt“. Auch nach dem Tode Puschkins, als Nekrasov den Redakteursposten des "Sovremenniks" übernommen hatte, publizierte das Journal Gedichte Tjučevs. In Petersburg blieb der Dichter Tjučev trotz allem lange Zeit unbekannt. Als Diplomat, der ein langes glückliches Leben (1803-1873) führte und davon den größten Teil in Deutschland verbrachte, genoß Tjučev dagegen weithin hohes Ansehen. 1822 ging der 19 Jahre junge Tjučev, nachdem er sein Studium vorzeitig absolviert hatte, als Beamter des russischen auswärtigen Amtes nach München. Er verbrachte mehr als zwanzig Jahre in Deutschland. Im Jahr 1844 veröffentlichte er in Frankreich „Russland und Deutschland“, eine Broschüre, die nicht nur die feste Verbundenheit Russlands und Deutschlands in der damaligen Politik, sondern auch in seinem eigenen Leben und in seiner Seele symbolisierte.
Tjuttschew-Gedenktafel in München. Am 3.07.1999 enthüllt.
Tjuttschew-Gedenktafel
Für ihn, wie für alle gebildeten Russen jener Zeit, gab es keine sprachlichen und kulturellen Barrieren. Schon als Kind beherrschte Tjučev Latein, Französisch, Deutsch und Englisch. Er verkehrte mit den aufgeklärtesten und intelligentesten Mitmenschen und fühlte sich in jedem europäischen Land wohl. Deutschland wurde zu seiner Wahlheimat. Während der ersten Dienstjahre begeisterte sich Tjučev für die idealistische Philosophie, vor allem für die Werke Schellings. Er lernte den Autor sogar persönlich kennen. Es ist bekannt, dass Friedrich Schelling sowohl das intellektuelle Vermögen als auch die Charaktereigenschaften des jungen Gesandten sehr schätzte. Tjučev freundete sich mit Heinrich Heine an. Noch bevor sie auf Deutsch veröffentlicht und in Deutschland populär wurden, übersetzte er als erster russischer Poet die „Reisebilder“ und das „Buch der Lieder“ von Heine ins Russische. Ohne die Begeisterung für Horaz und Vergil zu verlieren, wird Tjučev zum glühenden Anhänger der deutschen Romantik. Er übersetzt Schiller, Goethe und Herder. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, er übersetzte auch die englischsprachigen Werke von Gray und Byron ins Russische. Essays und journalistische Aufsätze schrieb er allerdings immer auf Französisch. Obwohl sich genau zu jener Zeit sein dichterisches Talent entfaltete und aufblühte, ließ Tjučev seine Gedichte damals nicht drucken. Beweise für den poetischen Höhenflug während des Deutschlandaufenthaltes liefern vereinzelte Werke, die gelegentlich in russischen Zeitschriften erschienen, unterzeichnet mit den Anfangsbuchstaben F.T. oder T.F. Es entsteht der Eindruck, dass sich der Autor um seinen Ruhm und seine Popularität bei den russischen Lesern nicht bekümmerte und seine poetischen „Übungen“ nicht ernst nahm.
Tjuttschew-Denkmal in München
Tjuttschew-Denkmal
Mit Russland verbinden Tjučev seltene Urlaubsbesuche und erbittert – traurige Gedanken an die Zukunft des Landes. In der russischen Gesellschaft herrschte in den 1830er Jahre eine besondere Stimmung: mit dem Misserfolg des Dekabristenaufstands zusammenhängende Enttäuschung, die Erinnerung an die Repressionen, von denen fast ausnahmslos jede adlige Familie betroffen war. Zeilen aus dem Gedicht Lermontovs „Gedanken“ charakterisieren diese Epoche am besten: „Wir sind von der Wiege an ausgestattet mit den Fehlern unserer Väter und ihrer späten Besinnung“. Auch F. Tjučev nennt seine Altersgenossen „Scherben der älteren Generationen“. In Deutschland, wo Tjučev die meiste Zeit verbrachte, blieb er von der Atmosphäre bedrückender Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit verschont. Im Gegenteil, seine Übersetzungen und Werke sind voller Energie und philosophischem Reichtum, streben danach, den Sinn des Lebens zu begreifen und die Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln.
Не то, что мните вы, природа: Не слепок, не бездушный лик – В ней есть душа, в ней есть свобода, В ней есть любовь, в ней есть язык…
Im Jahre 1843 ging Tjučev zurück nach Russland, diesmal für immer. Diesen Beschluss begleiteten komplizierte familiäre und berufliche Umstände. Er setzte den Staatsdienst im Amt für auswärtige Angelegenheiten Russlands fort, nutzte aber jede Gelegenheit, um lange und oft im Ausland zu verweilen. Das Umfeld des Beamten Tjučev war weit entfernt von jeder poetischen und literarischen Produktion. Der Artikel des Kritikers Nekrasov „Die russischen zweitrangigen Dichter“ brachte Tjučev dann aber doch dazu, erneut zur Feder zu greifen und seine Werke zu veröffentlichen. Als Nekrasov sich mit den noch von Puschkin publizierten „Gedichten, die aus Deutschland eingesandt worden sind“ kritisch auseinandersetzte, ahnte er nicht, dass sich der Autor, den er als „zweitrangig“ bezeichnete, zur selben Zeit ganz in seiner Nähe und Petersburger Nachbarschaft befand. Die „Zweitrangigkeit", meinte Nekrasov, habe jedoch nur mit dem Bekanntheitsgrad des Dichters im Vergleich mit Puschkin oder Lermontov zu tun. In künstlerisch-literarischer Hinsicht würden Tjučevs Gedichte „zu den wenigen brillianten Erscheinungen der russischen Dichtung“ gehören, so der Kritiker. Der erste Gedichtband Tjučevs erschien 1854 in Russland. Die Publikation eröffnete eine neue und letzte Periode seines Schaffens – die Petersburger, die ohne Frage an die deutsche Periode anknüpfte. Nachdem in Russland bekannt geworden war, wer die "Gedichte, die aus Deutschland eingesandt worden sind" geschrieben hatte, versuchte die russische Kritik, Tjučev in angestrengte literarische Debatten zu verwickeln. Der Autor selbst hielt sich davon fern, sein Name aber, war in den Diskussionen stets präsent. 1859 schrieb А. Fet einen Aufsatz über Tjučevs Gedichte, die er als hervorragendes Beispiel der „reinen Kunst“ ausgab, der Fet künstlerisch den Vorrang einräumte. Seitdem wird Tjučevs Werk für immer mit der "reinen Kunst", einer Poesie, der jeder soziale Bezug fehlt, verbunden. Fets Opponenten, die Revolutionären Demokraten des 19. Jahrhunderts, behaupteten das Gegenteil. Es ist bekannt, dass die Gedichte Tjučevs für den in der Peter-Pauls Festung eingekerkerten Tschernyschewsky unentbehrlich waren. N. Dobroljubow fand in der Dichtung Tjučevs „...glühende Leidenschaftlichkeit, unerbittliche Energie und einen tiefen Sinn, der nicht nur dem Chaos der Natur entspringt, sondern auch den Fragen der Moral und der gesellschaftlichen Interessen“. Unerklärlicherweise hat die sowjetische Literaturkritik die Worte Tschernyschewskys und Dobroljubows vergessen, sich aber stets sehr gut an die Meinung Fets erinnert: Der Dichter-Diplomat Tjučev hatte zu höchsten zaristischen Regierungskreisen gehört. Seine Frau war Hofdame im Dienste der Tochter Alexander II. Tjučevs Name verschwand aus allen sowjetischen Lehrbüchern. Nur im Kleingedruckten verwiesen sie die Studenten auf die Möglichkeit, sich selbst ein Bild von Tjučevs Werk zu machen. Das Interesse am Leben und Werk Tjučevs wächst seit Ende des 20. Jahrhunderts und seitdem das lesende und literarische Publikum ihn als eine großzügige, multikulturell geprägte Persönlichkeit mit sehr subtilen philosophischen Ansichten zu deuten wusste. Denn nur ein Weltbürger konnte solche prophetischen Worte über seine Heimat schreiben:
Verstand wird Rußland nie verstehn, Kein Maßstab sein Geheimnis rauben; So wie es ist, so laßt es gehn - An Rußland kann man nichts als glauben."
Übersetzung: Olga Koseniuk