„Meine Leidenschaft, meine Heimat, die Wiege meiner Seele! Die Burg des Geistes, die man irrtümlicherweise für das Gefängnis des Körpers hält!“ – schreibt M. Zwetajewa in ihren Tagebüchern 1919.
Weiter liest man: „Wenn man mich nach meinem Lieblingsdichter fragt, stockt mir erst der Atem und dann spucke ich zugleich zehn deutsche Namen aus. Ich bräuchte zehn Münder, die diese Frage gleichzeitig, im Chor beantworten könnten. Heine ist auf Platen eifersüchtig, Platen auf Hölderlin, Hölderlin auf Goethe. Nur Goethe ist gar nicht eifersüchtig: Gott!“
- Was mögen Sie an Deutschland?
- Goethe und den Rhein.
- Lieben Sie das Deutschland von heute?
- Leidenschaftlich.
- Wie? Nicht beachtend…
- Nicht nur nicht beachtend, nicht hinsehend!
- Sind Sie blind?
- Ich sehe.
- Sind Sie taub?
- Ich habe ein absolutes Gehör.
- Was sehen Sie denn?
- Das Gestirn Goethes über den Jahrtausenden.
- Was hören Sie denn?
- Das Tosen Rheins durch die Jahrtausende
- Das ist doch die Vergangenheit!
- Die Zukunft!
Wenn Marina Zwetajewa Deutschland als ihre Heimat bezeichnet, meint sie ihre geistige Verbundenheit mit diesem Land. Sie wurde in Russland geboren und liebte dieses Land sehr innig, jedoch war die „Leidenschaft gegenüber jedem Land wie gegenüber einem einzigen“ ganz im Sinne ihres Charakters und Temperaments. Es stellt sich nur die Frage, warum es ausschließlich und einzig Deutschland war, das im Leben der Dichterin diesen besonderen Platz einnahm?
Die Antwort auf diese Frage liefern historische Belege: die Tagebücher von Marina Zwetajewa („Auszüge aus Tagebüchern von 1919“), die „Memoiren“ ihrer Schwester Anastasija (die Schwestern verstanden sich nicht nur bestens, sie fühlten und dachten ähnlich, lasen Gedichte einstimmig vor und lebten genauso) und Memoiren von Irina Odoevčeva „An den Ufern der Seine“.
A. Zwetajewa stellt in ihrem Buch die warme familiäre Atmosphäre des Hauses von Professor Ivan Zwetajew wieder her. Er widmete sein Leben der Wissenschaft und der schönen antiken Kunst. Die Erziehung der Kinder (aus der ersten und der zweiten Ehe) lag voll in den Händen seiner zweiten Ehefrau, Maria Mein. Diese Frau, Halbdeutsche, Halbpolin war sehr romantisch gesinnt. Sehr gut gebildet und musikalisch hochbegabt, gab sie alles, was für sie im Leben wichtig und wertvoll war, an ihre Töchter, Marina und Anastasija, weiter: „… die Musik, die Schönheit der Natur, Gedichte, Deutschland…“; und vor allem die unvergängliche Liebe zum Höhepunkt der deutschen Kunst, der Romantik. 1919 schrieb Marina im Tagebuch: „Von meiner Mutter erbte ich Musik, Romantik und Deutschland…
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Anastasija und Marina Zwetajewas |
Es mag vielleicht seltsam klingeln, aber Deutschland ist für mich das vollendete Griechenland, das Altertümliche, das Junge. Die Deutschen erbten das. Ohne Kenntnisse des Griechischen werde ich dieses Nektar, dieses Ambrosius aus keinen Händen und Mündern, außer den deutschen, in Empfang nehmen“.
Die erste persönliche Begegnung der Schwestern mit Deutschland fand 1904 statt. Diesen Sommer, vom 19.07 bis 13.09., verbrachten sie in dem beschaulichen Dörfchen Langackern im Schwarzwald (das Jahr davor waren sie Schülerinnen einer französischen Pension in der Schweiz). Die Familie traf sich im gemütlichen Hotel „Zum Engel“. Die Wiedersehensfreude war groß, besonders weil die Mädchen wieder in die vertraute Atmosphäre des Elternhauses eintauchen konnten:
Wir liegen, vor Glück sprachlos,
Haben Schmetterlinge im Bauch,
Im Grass; die blauen Pflaumen reifen
Mama liest uns vor aus dem „Lichtenstein“.
Dieser Sommer war ein einmaliges, zauberhaftes Erlebnis, an das die beiden Schwestern gern zurückdenken.
Der märchenhafte Schwarzwald
Anastasija Zwetajewa („Memoiren“):
Das „Gasthaus zum Engel" lag höher als die benachbarten Dörfer. Manchmal stiegen wir mit den Eltern dort hinunter. Die braunen Schwarzwaldhäuser ähnelten einem Steinpilz oder Birkenpilz. Sie hatten ein steiles, tief hinabreichendes Dach, ums Haus herum lief eine Galerie. Sie sahen wie holzgeschnitztes Spielzeug aus und waren überall verstreut: an den Wegrändern, den Hängen oder an Straßenkreuzungen, wo auch immer Kruzifixe standen. Die Schwarzwaldtäler! Das waren lebendig gewordene Grimmsche Märchen! Verwunderlich waren die zu beiden Seiten der Landstraße wachsenden Bäume. Ihre Früchte wurden von den Kindern nicht vor der Zeit gepflückt. Geschah das aus Vernunft oder aus Angst vor der Sünde? Auf den Bänken vor den Häusern saßen uralte Greise mit langen Pfeifen und alte Frauen mit einer Handarbeit oder mit kleinen Kindern auf dem Arm. Alle trugen Schwarzwäldertracht, wie auf den Ansichtskarten, die wir in Freiburg gesehen hatten.
Wenn sich der Sonnenuntergang anzukündigen begann, tönte aus den Tälern das Geläut der fernen Dorfkirchen, genauso unausweichlich wie der Morgen und der Abend. Es war die melodiöse Stimme der Talstille und der Bergstille. Auf diesen Ruf hin zogen Kinder, einzeln oder zu zweit, von den Bergweiden zu Tal, eine kleine Herde Ziegen oder Schafe vor sich hertreibend. Zum gleichen dünnen Klang der um den Hals der Tiere hängenden Glöckchen wie einstmals in den russischen Weiten. Und dann kam die Grimmsche Nacht: sternenklar. Wie ein großes Zelt bedeckte sie Bäume, Hügel und das Rauschen des Tannenmeeres.
Sonntags erfreuten die jungen Burschen und Mädels in Schwarzwäldertracht die Alten mit ihrem Gesang und Tanz. Und über das Ganze hinweg flog unsere Kindheit!
Marina Zwetajewa (Auszüge aus den Tagebüchern 1919):
Wie habe ich, mit welcher Sehnsucht, wie verrückt, den Schwarzwald geliebt. Die goldigen Täler, die bedrohlich-gemütlichen Wälder, vom Dorf mit den Gasthofschildern: „Zum Adler“, „Zum Löwen“ ganz zu schweigen. Wenn ich so einen besitzen würde, hieße er „Zum Kuckuck“.
Ich werde nie die Stimme vergessen, mit denen der Besitzer eines kleinen Gasthauses „Zum Engel“ im kleinen Schwarzwald, auf das einzige Napoleon-Bildnis im Saal zeigend, schwärmte:
Das war ein Kerl!
Und nach der zufriedenen Pause:
Der hat’s der Welt auf die Wand gemalt, was Wollen heißt!
Die beiden Schwestern erlebten in dieser Zeit die hellsten und glücklichsten Seiten der Wirklichkeit. In den frühen Jahren lernten sie die schönen Welten lieben: das Spiel, das Märchen, den Traum… Jedoch stellt man auf Grund der oben aufgeführten Texte fest, wie unterschiedlich sie sind. Anastasija ist ausgeglichener und objektiver. Sie versucht, das Geschehnis so ausführlich, wie möglich zu schildern. Für Marina sind es die eigenen Emotionen, die im Mittelpunkt stehen, die romantische Figur Napoleons ruft ihre Begeisterung hervor (der Unterschied der Textgenre und des Alters der Verfasser muss auch Berücksichtigung finden).
Das waren aber auch die letzten sorglos - glücklichen Tage der Familie… Viele Entbehrungen und Zerreißproben standen den Schwestern bevor. Aber nicht mal der größte Schmerz – die Krankheit und der Tod der Mutter vermag es, die heile romantische Welt in den Seelen der Zwetajewa -Schwestern zugrunde zu richten.
Das „Land der allerbesten Märchen“, Deutschland, besuchten Marina und Anastasija Zwetajewas sechs Jahre später, sie waren schon fast erwachsen: Asja war 16 Jahre alt und Marina 18. Im Sommer 1910 machte Ivan Zwetajew eine Dienstreise nach Dresden. Er war dabei, ein neues Museum zu eröffnen. Die Mädchen wurden auf Rat seines Freundes, Georg Trejs, im Haus des Pastoren Bachmann untergebracht, wo sie sich erholen und ihr Deutsch auffrischen sollten. Man dachte auch, dass es für Mädchen, die ohne Mutter aufwachsen, sinnvoll wäre eine Zeit lang in einer strengen deutschen Pension zu leben und bei der Pastorenfrau Haushaltsführung zu lernen.
Weißer Hirsch
Anastasija Zwetajewa („Memoiren“):
Foto: Alexandra Omeltschenko |
Weißer Hirsch |
Weißer Hirsch. Ein hügeliger Ort bei Dresden. In diesem Städtchen ist so viel Grün, dass man nur lauter Gärten an den Hängen sieht. Darin ertrinken die Dächer der Villen aller nur möglichen Stile, darin schlängelt sich die Drahtseilbahn. Das Haus von Pastor Bachmann, wo wir wohnen werden, liegt oben auf dem Berg, in Lochwitz. Eine schmale Straße führt bergab, an dieser Straße steht das Bachmannsche Haus.
Das Haus ist aus dunklem Holz gebaut. Es läuft oben spitz zu, (den ersten Stock geht ein breiter Balkon herum. Es ähnelt einem Schweizer Chalet oder einem Schwarzwaldhaus, vor sieben und sechs Jahren haben wir in solchen Häusern mit Mutter gewohnt. Vor dem Haus ist ein sehr kleiner Garten. Man zeigt uns unsere beiden Zimmer. Das eine, ein Durchgangszimmer, ist klein und geht mit dem einzigen Fenster auf das bergauf steigende Grün der Villengärten hinaus. Dahinterkommt ein größeres Zimmer mit zwei Fenstern. Vorzüglich! Wir teilen auf, ohne Streit. Das große Zimmer wird Marina bewohnen, das kleine Durchgangszimmer fällt mir zu. Ans Fenster werde ich einen Tisch stellen. Dort werde ich Tagebuch führen. Marina stellt ihren Schreibtisch in der Tiefe des anderen Zimmers auf. Nach dem Mittagessen werden wir in die Stadt gehen, anschließend ins Schwimmbad. Es ist unsäglich heiß.
Wir waren nicht die einzigen Kostgänger der Bachmanns. Außer uns wohnten bei ihnen noch zwei halbwüchsige Burschen: der fünfzehnjährige Christian und der siebzehnjährige Helmut. Der erste war rechtschaffen uninteressant – desto eigenwilliger war Helmut (auch sein Name passte gut zu ihm). Er war der einzige Sohn eines reichen und strengen Vaters und genau wie wir ohne Mutter aufgewachsen.
Helmut lag uns sehr, wir freundeten uns rasch an. Er war klug, wohlerzogen, hatte viel gelesen. Er war schlank und nicht sehr groß. In allem, was er tat, spürte man Willensstärke. Vaters Wunsch ging in Erfüllung: Von Tag zu Tag wurde unser umgangsdeutscher Wortschatz, der seit Mutters Zeiten, genau wie der französische, stark geschrumpft war, immer größer. An den Tischgesprächen beteiligte sich auch Christian, ein echter junger Deutscher vom kleinbürgerlichen Typ.
Marina (aus dem Tagebuch 1919):
Lochwitz bei Dresden. Ich bin sechzehn, in der Pastorenfamilie. Ich rauche, trage meine Haare kurz und habe hohe Schuhabsätze. Das ist ein Luftkurort nach dem System vom Dr. Lamann. Alle haben Sandalen an! Ich verabrede mich mit der Kentaurus-Statue im Wald und kann keine rote Beete von Möhre unterscheiden (und das in der Pastorenfamilie!) Anders gesagt: unpassender kann man kaum sein. Bin ich zur Außenseiterin geworden? Nein, ich wurde geliebt, toleriert, sein gelassen. Wurde mir jeweils etwas gesagt? Hat mich jemand zumindest schief angeschaut? Oder sich etwas dabei nur gedacht? Das ist ein Land der Freiheit. Das behaupte ich einfach mal…
Von Jungen. Ich weiß noch, als ich eine Heranwachsende war, in Deutschland, im Örtchen „Weißer Hirsch“ bei Dresden, wo uns der Vater mit Asja hinschickte, um die Hauswirtschaft in der Pastorenfamilie zu lernen; ein Fünfzehnjähriger, unangenehm frech und unangenehm schüchtern zugleich, rosig; sah sich meine Bücher an. Er sah “Zwischen den Rassen” von H. Mann, mit dem mit meiner Hand geschriebenen Epigraphen:
“Blonde enfant qui deviendra femme,
Pauvre ange qui perdra son ciel”.
(Lamartine)…
Ein anderer, auch rosig und blond, aber gänzlich schüchtern und angenehm-schüchtern, der kleine commis, der süße dreizehnjährige Christian, führ Asja bei der Hand, wie seine Braut. Wahrscheinlich oder sogar ganz bestimmt dachte er nicht einmal daran, aber die Geste, die von vielen Generationen der Gutsverwalter eintrainiert worden war, war ihm im Blut.
Noch Einer, der dunkelhaarige und helläugige Helmut, den wir, zusammen mit anderen Jungen (wir waren mit Asja „erwachsen“, „reich“ und „frei“, während sie - Schulbuben, die um neun Uhr abends im Bett sein mussten) das Rauchen beibrachten und sie mit den kleinen Törtchen fütterten. Zum Abschied schrieb er Asja ins Album Lustiges: „Die Erde ist rund und wir sind jung, — wir werden uns wiedersehen!“
Der Lyzeumsschüler Wolodja, der so anders war, als sie, aber mit gleicher Begeisterung mit den Augen die Höhe unserer Absätze maß, hier, im Tempel von Dr. Lemann, wo man in Sandalen bereits das Licht der Welt erblickte!
Helmut, Christian, Wolodja! — wer von euch überlebte die Jahre 1914-1917!
Foto: Alexandra Omeltschenko |
Die Themen, die die Schwestern vereinen: Jungen und Streiche sind typisch für das Alter. Jedoch akzeptiert Anastasija ohne Protest die Führungsrolle von Marina. Marina ist es, die sich behauptet: die kurze Frisur, die ganz und gar für einen Kurort (Wälder und Berge) unpassenden hohen Schuhabsätze und das, was sich für eine junge Frau überhaupt nicht gehört – Rauchen!
Sie lebt in ihrer eigenen Welt: Treffen mit Kentauren, Tagesträume, Gedichte von Goethe, Novalis und Heine… Erst später lernt sie zu schätzen, dass sie so akzeptiert wurde, wie sie war: „Das ist ein Land der Freiheit“.
Das wichtigste Ereignis dieser Tage war ein literarisch-musikalischer Abend auf einer reichen Villa und das Treffen mit einer „zauberhaften Greisin“, Märchenfrau, „der alten Fee“.
Die Märchenfrau
Anastasija Zwetajewa („Memoiren“):
Ein Märchen folgte dem anderen. Wie glänzten die alten Augen auf dem jung gewordenen, wunderbaren Gesicht! Endlich verstummte sie, ermattet. Man dankte ihr, während sie sich, noch immer leuchtend, bereits von uns entfernte. Gleich würde ihr körperliches Altsein anbrechen, das während des Erzählens ausgesetzt hatte.
Der graue Kopf, die altmodische, aber nachlässige Frisur. Die hageren Schultern und Hände, das alte schwarze Kleid, unlängst noch, während sie sprach, fast eine Königsrobe… Und ihr Weggehen, die Müdigkeit der Gliedmaßen, der Stimme, das Versinken in den Schlaf…Wie könnte man dich vergessen, Märchenerzählerin?
Marina (aus dem Tagebuch 1919):
Deutschland ist das Land der Sonderlinge. So würde das Buch heißen, das ich (auf Deutsch!) schreiben würde. Sonderlich. Wunderlich. Sonder und Wunder sind nah verwandt. Noch mehr: ohne Sonder gibt es kein Wunder, ohne Wunder kein Sonder.
Îh, ich habe sie gesehen: die Naturmenschen mit den Indianerfrisuren, die nach Dionisios verrückten Pastoren und Pastorenfrauen, die an der Chiromantie einen Narren gefressen haben. Die alten Frauen, die sich jeden Abend nach dem Abendbrot mit ihren gestorbenen Alten beraten, und Märchenerzählerinnen, die das Erzählen von Märchen als ihre Berufung oder gar Handwerk sehen. Märchen als Beruf, als Quelle der finanziellen Existenz. Bewerten sie mal dieses Land! Oh, ich habe sie gesehen. Ich kenne sie. Einem anderen von deutschen Vernunft und Langeweile!
Was beeindruckte und entzückte an diesem Abend die Schwestern? Das Improvisieren, die Inspiration, die Reise mit der Märchenerzählerin in die geliebte romantische Märchenwelt. Marina stellt dabei fest, wie gefragt der Beruf der Märchenfrau ist. Das steht für sie vor allem im Mittelpunkt: „Mein ewiges Schwärmen… In Deutschland steht es an der Tagesordnung, in Deutschland bin ich gewöhnlich: ein schwarzes Schaf unter anderen schwarzen…“. Daher wundern wir uns nicht, als Marina Zwetajewa, die leicht russische Wörter mit den deutschen reimt, vier Jahre später, 1914, am Anfang des Ersten Weltkriegs „ihr Deutschland“ verteidigt:
Von der ganzen Welt wirst du gejagt,
Unzählig deine Feinde sind
Wie kann ich dich verlassen?
Wie kann ich dich verraten?
Wie soll ich bloß vernünftig werden:
„Aug ums Aug, Blut um Blut“
Deutschland, du meine Versuchung!
Deutschland, du meine Liebe!
Wie hätt`ich dich zurückgewiesen,
Mein getriebenes Vaterland
Wo immer noch in Königsberg
sieht man den schmalgesichtigen Kant,
Mit neuem „Fauste“ in Gedanken
In anderer gottverlassener Stadt
Geheimrat Goethe geht spazieren
Mit einem Stöckchen in der Hand.
Wie könnte ich dich je verlassen,
Mein wundersamer deutscher Stern,
Ich war doch nicht dazu erzogen,
Dass ich nur halbwegs Liebe schenk, da ich -
Von deinen Liedern so begeistert -
Nicht höre die Leutnantsspore,
Da mir heilig der Heilige Georg
In Freiburg, am Schwabentore.
Da ich vor Bosheit nicht ersticke
An des frechen Kaisers Bart
Da ich dir ewige Liebe schwöre,
Mein Deutschland, bis ins Grab.
Es gibt kein Land, das so wunderbar,
Das gar weiser als du, Zauberland,
Wo über dem ewigen Rhein
Loreley kämt ihr goldenes Haar.
(Moskau, 1.12.1914)
In den Tagebüchern von 1919 analysiert Marina Zwetajewa ausführlich ihr Verhältnis gegenüber der deutschen Romantik:
„…Die Verlässlichkeit des deutschen Leibes halten sie fälschlicherweise für die Untergebenheit des deutschen Geistes! Es gibt aber keinen anderen Geist, der freier, rebellischer und arroganter wäre, als der deutsche! Sie sind uns, Russen, Brüder, aber sie sind weiser (weil älter?) als wir. Nicht auf dem Marktplatz, sondern auf den Höhen des Geistes wird gekämpftt. Auf dem Marktplatz brauchen sie nichts. Daher kommt die Demut. Sie beschränken sich hier, um dort allmächtig zu herrschen. Sie bauen keine Barrikaden, aber sie haben philosophische Systeme, die die Welt sprengen und Poeme, die sie neu erschaffen“.
Für die meisten Menschen dieser Zeit gehörte die deutsche Romantik in die Vergangenheit, in die Geschichte der Kultur. Marina Zwetajewa lebte immer noch im Einklang mit ihr. Sie übertrug die Gesetze der Romantik in die Realität. Ihr Umfeld konnte das nicht verstehen und fand es komisch, aber für die Schwestern – Zwetajewas war das die Normalität. Die ganzen späteren Lebensjahre von Marina beweisen es…
Das nächste Treffen mit Deutschland fand für Marina erst am Anfang ihrer Emigration statt. 1922 beschließt sie ihrem Mann, Sergej Efron, der, wie durch ein Wunder, während der Revolution und des Bürgerkrieges in Russland überlebte, nach Tschechien zu folgen. Efron war Weißgardist, ein Kämpfer der freiwilligen Weißen Armee. Als Frau, die ihren Mann liebt, handelt Marina ohne Rücksicht auf Verluste, um ihre Familie zu retten. Sie nimmt ihre Tochter Ariadna mit (die jüngere, Irina, war zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Kinderheim verhungert). Aber Marina ist eben keine gewöhnliche Ehefrau und Mutter, sie ist Dichterin und überzeugte Romantikerin.
„Ich trage seinen Ring mit Stolz!
Ja, in der Ewigkeit bin ich die Frau, nicht in den Papieren…,“
- schrieb sie im Gedicht an Sergej Efron 1914; und fügte hinzu:
Mit ihm bin ich all den Rittern treu,
Die ohne Furcht lebten und so starben!
Solche, wenn das Schicksal es so will –
Merkwürdigerweise stellte sich heraus, dass eben die schwierigsten Revolutionsjahre trotz Hunger und Entbehrungen für Zwetajewa als Dichterin die glücklichsten waren. Sie war beliebt und wurde vergöttert! Als Zwetajewa Russland verlies, verlor sie auch das Verständnis und die Liebe ihres Publikums. Sie gab zu, dass sie „...aus dem Land, wo man ihre Gedichte, wie Brot, brauchte, in ein Land geriet, wo man gar keine Gedichte haben will“. Was für ein Land war wohl gemeint?
Einige Monate verbrachte M. Zwetajewa in Berlin, dann lebte sie in Vororten von Prag, und die letzten Jahre – bei Paris. Von den anderen Emigranten erfuhr sie einen mehr als zurückhaltenden Empfang. Irina Odoevčeva erinnert sich, dass den Russen in Berlin und Paris vieles an Marina nicht gefiel und sie störte. Das waren gerade die Eigenschaften, die man in Moskau so sympathisch fand: „ihre unzähmbare Träumerei“, „die Mythenschreiberei“ und „das Egozentrische“ an ihrer Persönlichkeit. Aus diesem Grund waren die Beziehungen Zwetajewas zu anderen Emigranten (z. B. Adamovič, Iwanow) nicht gerade warm und freundlich. Sie selber machte stets einen „kampfbereiten“ Eindruck.
In jeder Hinsicht war diese Zeit nicht leicht für Zwetajewa. Sie versuchte sich über Wasser zu halten, wie sie nur konnte. Der Sohn kam zur Welt, die Tochter wuchs auf. Die Familie konnte nur ab und zu etwas verdienen. Das literarische Schaffen und die Hausarbeit unter einen Hut zu bekommen, ist vielleicht die Aufgabe eines gewöhnlichen Menschen. So war Marina nicht. Gerade in dieser Zeit entstanden ihre besten Werke. Die Meinung des russischen Publikums in Europa konnten jedoch auch sie nicht ändern. Als dann noch die Zusammenarbeit Efrons mit dem sowjetischen Geheimdienst bekannt wurde, wich die gleichgültige Kälte gegenüber der Dichterin einer beleidigenden Verachtung. So kam es dazu, dass Zwetajewa, ungeachtet des wildesten stalinistischen Terrors dieser Jahre, beschloss, zurück nach Russland zu gehen. Zum wiederholten Mal folgte sie dabei ihrem Mann, der in die USSR fliehen musste, aber auch ihrer Tochter, die mit 16 die sowjetische Staatsbürgerschaft beantragte.
1938 in Paris, in einer der schwierigsten Minuten ihres Lebens antwortete Marina auf die Frage von I. Odoevčeva, ob sie sich freut, zurück nach Russland zu gehen: „Ah, nein, ganz und gar nicht. Wenn ich nur nach Deutschland zurück könnte, in die Kindheit… In Russland ist mir jetzt alles fremd und feindlich. Sogar die Menschen. Ich bin dort für alle fremd“.
Leider, täuschten Zwetajewa die bösen Vorahnungen nicht. S. Efron kam in einem stalinistischen Lager ums Leben, die Tochter Ariadna wurde verhaftet. Die Schwester Anastasija saß bereits hinter Gitter (vielleicht deshalb, weil sie Marina in Prag besuchte). Die letzten zwei Jahre im Leben von Marina Zwetajewa waren nicht nur durch völlige Missachtung und Armut gekennzeichnet (besonders ungerecht, wenn man bedenkt, dass Professor Ivan Zwetajew Russland einst drei Museen geschenkt hatte!); auch zwischen Marina und ihrem 17-jährigen Sohn Georgij kriselte es gewaltig. Zwetajewa sah nur einen Ausweg: sie flüchtete… in den Tod. Konsequent für eine Romantikerin.
Zweimal in ihrem Leben dachte sie ernsthaft daran, sich das Leben zu nehmen: als 17-Jährige und im Februar 1941:
Zeit den Bernstein abzulegen,
Zeit das Wörterbuch auszuwechseln,
Zeit die Lampe auszumachen
Über der Eingangstür…
Am 31 August 1941 in Elabuga beschließt sie es endgültig. Nach Meinung von Boris Pasternak hat sie sich, „den Kopf in der Schlinge, im Tod versteckt wie unter einem Kopfkissen…“
Übersetzung: Olga Koseniuk