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Boris Pasternak in Deutschland

Àâòîð: Jelena Beleninowa
Äîáàâëåíî: 2013-08-23 07:30:00

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Das erste Mal Boris kam in Deutschland in 1905

Die Familie ließen sich im Westen Berlins in der Nähe einer Rennbahn und des Zoologischen Gartens. Da das Leben mit der ganzen Familie in einer Pension zu teuer war, wurde für Borja und Schura ein Zimmer neben einem Lebensmittel laden im Nachbarhaus gemietet.

Borja beschäftigte sich mit der Sprache, eignete sich den Berliner Dialekt an, las deutsche Romantiker, Hoffmann, Jean-Paul Richter. Er lebte sich in die Sprache ein. Doch die Hauptsache war für ihn in dieser Zeit die Musik. In Moskau hatte er einen Konservatoriumslehrgang bei Prof. Ju. D. Engel begonnen.

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L. Pasternak: Boris und Alexander PasternakWikipedia
Boris und Alexander Pasternak

In Berlin wurde der Unterricht wiederaufgenommen, freilich im Femstudium. Die Ladeninhaberin, eine Witwe, hatte zwei Töchter. Die ältere spielte auf einem verstimmten Klavier. Um das Stimmen zu bezahlen und sich das Recht zu sichern, selber Klavier zu üben, bot er an, kostenlose Stunden in Musiktheorie zu geben. Er ging regelmäßig in Klavier- und Sinfoniekonzerte, war von Wagner begeistert. In der gotischen Gedächtniskirche arbeitete ein hochbegabter Organist. Dessen freie, kühne Bach-Interpretation und eigenen Inventionen fanden später ihren Niederschlag in der romantischen Novelle „Die Geschichte einer Kontraoktave", die Boris P. mit 16-17 Jahren schrieb.

Von den drei erhalten gebliebenen musikalischen Werken von Boris Pasternak sind zwei Präludien, die er 1906 komponiert hat. (Sie werden noch aufgeführt. Es gibt Tonaufnahmen.)

Im Juni quartierte die Familie sich zeitweilig in Göhren auf Rügen ein, im Haus „Wilhelmshöhe". Der Blick aus den Fenstern auf das Meer erinnerte an Odessa. Bald reiste auch Prof Ju. D. Engel mit seiner Frau und den Töchtern an, den gleichaltrigen Freundinnen von Shenja und Lida, Leonid Pasternaks jüngsten Töchtern. Der Kompositionsunterricht bei Engel fand oft am Strand statt. „Nein, Borja, also Borja! - rief Engel einmal ums andere, hingerissen von einer unerwarteten neuen Komposition. Danach hatten sie Notenpapier in Händen, waren nun nicht mehr Lehrer und Schüler, sondern einfach zwei Musiker, zwei Vertraute, wenn sie, einander unterbrechend, auf Notenlinien herum strichelten, etwas sangen oder pfiffen, dann wieder auf die Notenlinien schauten - „wie Betrunkene oder Verrückte“ (Alexander Leonidowitsch Pasternak).

Marburg

Folgendes Mal Boris kam nach Deutschland in 1912. Sein Reiseziel war Marburg, genauer die Marburger philosophische Schule und ihr führender Kopf, Hermann Cohen. Er hatte sich von der Musik losgesagt, die Vorbereitung auf das Abschlussexamen in Komposition am Moskauer Konservatorium, das unter der Leitung von Prof. R. M. Glier stand, abgebrochen und widmete sich nun ernsthaft der Philosophie, wozu er sich von der Juristenfakultät auf die philologische Fakultät (Abteilung Philosophie) umschreiben ließ.

„Mamas Selbstaufopferung verpflichtete zu zehnfachem Geiz." („Schutzbrief'). Da Boris nichts Anständiges anzuziehen hatte, wurde ihm Vaters nicht mehr neuer, aber solider grauer Anzug verpasst, der nur ein Jahr jünger war als Boris selbst. In Marburg angekommen, mietete er ein billiges Zimmer am Stadtrand.

Seinen Eindruck von Marburg, der sich auf gründlicher Kenntnis der deutschen Geschichte und Kultur gründet, vermittelt der „Schutzbrief': Anfänglich bezahlte er auch noch ein Praktikum für Orgelspiel bei Prof. Jener, gab dies aber bald wieder auf.
In den Übungen Fuß zu fassen war schwierig, doch er überwand dieses Hindernis.


„... strenges Denken ist mir gar nicht so unerreichbar... Aber hier muß ich schon zweifeln: Brauche ich das?...", schrieb er seinen Eltern. Danach schrieb er, Marburg sei nicht museale, sondern lebendige Auf die wie Öl fließende Lahn glitt der eine oder andere Stern herab. In Ockershausen blökte das eben heimgetriebene Vieh. Wie in einer Oper flammte auf dem Berg Marburg auf. Wenn es geschehen könnte, daß die Gebrüder Grimm wieder, wie vor hundert Jahren, hierhergereist kämen, bei dem berühmten Juristen Savigny die Rechte zu studieren, führen sie noch einmal als Märchensammler von hier fort.

Vor langer, langer Zeit, mehr als ein halbes Jahrtausend vor Lomonossow, als ein neues Jahr, ein Alltagsjahr, das zwölfhundertdreißigste auf der Erde war, stieg droben vom Marburger Schloss eine lebende historische Person diese Hänge herunter, Elisabeth von Ungarn.

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Die Universität Marburg. 1891Wkipedia
Die Universität Marburg

Am 9. Mai schrieb Boris Pasternak sich als Philosophiestudent für das Sommersemester ein. Er war 22 Jahre alt - genau so alt war sein Vater gewesen, als er in München studierte. Er wählte drei Lehrgänge aus, bezahlte die Vorlesungsgebühr und die praktischen Übungen in den Seminaren. „... ich fragte mich mit dem fieberhaften Ehrgeiz des Anfängers, ob ich irgendwann von ihm bemerkt und einmal sonntags zum Essen eingeladen werden würde. Letzteres ließ einen sofort in der hiesigen Meinung steigen, denn es bedeutete den Beginn einer neuen philosophischen Karriere. "

Geschichte in ihrem ununterbrochenen Verlauf und am 18. Mai habe in der Aula die Immatrikulationsfeier stattgefunden. Nach einer schon im 16. Jahrhundert begründeten Tradition ging jeder Student zum Rektor vor und drückte ihm freundschaftlich die Hand. Der Rektor sprach den Wunsch aus ..., dass die Studenten „den Atem der Poesie, der die Stadt der Heiligen Elisabeth umweht, als Gelöbnis der Jugend von hier mitnähmen".

Ich mietete ein Zimmer am Stadtrand. Das Haus war eines der letzten in der Giessener Straße. An dieser Stelle schwenkten die Kastanien, mit denen sie bepflanzt war, wie auf Kommando Schulter an Schulter aufrückend, im ganzen Zug nach rechts. Nach einem letzten Blick auf den düsteren Berg mit dem alten Städtchen verlor sich die Chaussee hinter einem Wald.

Das Zimmer hatte ein dürftiges Balkönchen, das auf den Gemüsegarten des Nachbarn ging. Dort stand ein von den Achsen gehobener Wagen der alten Marburger Pferdebahn verwandelt zum Hühnerstall.

Eine Beamtenwitwe vermietete das Zimmer. Sie und ihre Tochter lebten von einer mageren Witwenpension. Mutter und Tochter waren zum Verwechseln ähnlich.

Hinter den Feldern, die an den sonderlichen Hühnerhof schlössen, sah man das Dorf Ockershausen. Das war eine langgestreckte Siedlung langer Scheunen, langer Wagen und kräftiger Percherons. Von dort zog sich den Horrizont entlang eine andere Straße. Beim Eintritt in die Stadt wurde sie Barfüßerstraße* getauft. Und Barfüßer nannte man im Mittelalter die Franziskaner-Mönche.

(Im Original deutsch).

Für Boris kam der Moment, seine professionelle Eignung zu beweisen. Er begann sich auf Wortmeldungen in Seminaren vorzubereiten. In einem Brief an die An gehörigen teilt er jedoch ein „schreckliches Geheimnis" mit: „Ida und Lena werden mich dieser Tage besuchen kommen. Was wird jetzt mit dem Studium?“

Es handelt sich um die Schwestern Wyssozki, Töchter des Millionen schweren Teehändlers Wyssozki. In die ältere von ihnen, Ida, war Boris seit langem verliebt, es wurde Zeit, sich zu erklären. Sie kamen am 12. Juni und stiegen für einige Tage im besten Gasthaus „Zum Ritter“ ab.

„Die drei Tage, die ich ununterbrochen mit ihnen verbrachte, waren meinem gewöhnlichen Leben so unähnlich wie Festtage dem Alltag. Ihnen ohne Ende irgendetwas erzählend, trank ich mich satt an ihrem Lachen und den Zeichen des Verständnisses der zufälligen Umgebung. Ich führte sie herum. Man sah sie beide zusammen mit mir in den Universitätsvorlesungen. So kam der Tag ihrer Abreise. ...Ich ... sagte, mich furchtbar aufregend, dass es so nicht weitergehen könne und ich sie bitte, über mein Schicksal zu entscheiden. “ („Schutzbrief”)

Diese Szene, ihre Absage, die Fahrt mit den Schwestern nach Berlin und seine einsame Rückkehr nach Marburg bilden eine der stärksten Seiten des „Schutzbriefs” und sind durch das Gedicht „Marburg” (1916) allbekannt geworden.

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L. Pasternak: Boris Pasternak. 1910 Wikipedia
Boris Pasternak

„Als Ida und Lena abgereist waren, begann man mich hier zu bemerken, nach zwei, drei Tagen der Verlassenheit; ich hatte mich schon in zwei Seminaren zu Wort gemeldet, in einem galt ich seitdem als Kenner von Leibniz, und man drängte mir ein Referat auf. Heute gab ich bei Natrop nicht ohne Pathos langwierige Erläuterungen zu Cohens Logik... Natrop hörte zu, machte Notizen und war wie immer herzlich wie Christus“, schrieb Boris an seinen Bruder Schura.

Anfang der Woche referierte er bei Hartmann über Leibniz, wo er sich bemühte, „das feine und einzig wahre Verständnis für Leibniz wiederherzustellen".

Cohen hatte seinen Vortrag auf Dienstag, den 2. Juli angesetzt. Im Terrassencafe über dem Steilhang sprach man schon von seinen Wortmeldungen.

Der Vortrag lief gut. Zwei Tage später (am 4.7.) begab er sich in einem geliehenen, schlecht sitzenden Frack zum festlichen Abendessen anlässlich Hermann Cohens 70. Geburtstag.

„Es war feierlich, warm, hell, Stimmung und Essen waren gut, ein großes, offenes Haus. Ich stieß mit ihm an. Sein Schüler Cassirer machte mit seiner Rede einen so starken Eindruck auf mich, dass für mich feststand, wo ich im kommenden Sommer, wenn Cohen nicht in Marburg wäre, meine Zeit verbringen würde. Natürlich in Berlin bei Cassirer - besonders weil Cohen dort hinzieht", schrieb er an die Eltern.

Doch trotz des Erfolgs blieb im Licht nüchterner Selbsteinschätzung seelischer Widerstand.

„Ich hielt mein zweites Referat. Ebenfalls Kant, mit Analyse. Cohen war schlicht erstaunt und lud mich zu sich nach Hause ein. Ich freute mich riesig. Du kannst Dir vorstellen, wie aufgeregt ich war, vor all diesen Doktoren aus allen Teilen der Welt, von denen das Seminar voll war, und vor den Damen. Ich weiß, dass ich mir in der Philosophie einen Namen machen würde... Aber dieses Jahr überwinde ich mich in Moskau zum letzten Mal", schrieb er an seinen Freund A. Stich. „Am Tag des Referates schrieb ich - fast unbewusst - drei Stunden vor der persönlichen Begegnung mit der Koryphäe des reinen Rationalismus - vor dem Genie mancher Anregungen - 5 Gedichte. Eins nach dem anderen, wie im Rausch."

Nach seinem glanzvollen Auftritt in Cohens Seminar fährt Boris Pasternak überraschend nach Kissingen, wo seine Eltern und Schwestern wohnen und wohin auch die Schwestern Wyssozki gekommen waren. Es war Idas Geburtstag. Die neuerliche Begegnung brachte nichts außer neuen Leiden.

„...Wie kompliziert war Kissingen. Am Montag kehrte ich völlig zerschlagen zurück", schrieb er an Stich. „Am Mittag traf ich auf der menschenleeren Straße neben dem Friseurgeschäft Cohen. Am Tage meiner Abwesenheit war mir seine Einladung zugegangen (Um Ihren freundlichen Besuch bittet Ihr Professor Herrn. Cohen").

Ich entschuldige mich natürlich. Langes Gespräch ... Fragen über Fragen, was ich zu tun gedenke... Russland, Jude, Arbeitsmöglichkeit, als Externer, Jurist."


(In Russland konnte ein Jude nach Absolvieren des Studiums nicht an der Universität bleiben.)

„Unverständnis: Wieso ich nicht in Deutschland bleibe und in der Philosophie Karriere mache - da ich doch eindeutig begabt dafür sei?"

Er versucht Stich klarzumachen, warum ihm die von Cohen skizzierte Perspektive Angst macht: „... Ich verabscheue solche Arbeit, die Frauen nicht kennt, nicht bemerkt, nicht braucht..".

Nicht Cohen hatte ihn enttäuscht... Was ihn abstieß, war das abgeschottete akademische Milieu, seine selbstsichere Taubheit und selbstzufriedene Zweitrangigkeit.

An Stich schreibt er: „Ich habe diese verheirateten Wissenschaftler gesehen: Sie sind nicht nur verheiratet, sie ergötzen sich manchmal auch am Theater und an saftigen Wiesen; die Dramatik eines Gewitters finden sie, glaube ich, auch attraktiv. ... Ja, sie existieren nicht; sie lassen sich nicht in der Leideform konjugieren. Sie arbeiten nicht bis zum Umfallen. Es ist intellektuelles Vieh.“

Bald danach kommt Lenonid Pasternak nach Marburg; er nimmt, nach langen Verhandlungen mit Cohen über ein Porträt und nachdem er ein paar Skizzen von ihm in der Vorlesung gemacht hat, Borja kurzerhand mit („pfeift auf Cohens Einladung, sich am nächsten Morgen bei ihm einzufinden") und fährt nach Kassel mit einer entsetzlichen Migräne, was die Besichtigung der Bildergalerie zu verderben drohte.

Aus einem Brief an P. D. Ettinger


„ ... Kaum hatte ich mit Boris die Galerie betreten, da stieg mir schon der Wein der Malkunst der van Dycks und der Rubens, der an den Wänden prangte, in den Kopf. Darbend und ausgehungert wie ich war, warf ich mich zuerst dem wunderbaren, majestätisch beherrschten van Dyck in die Arme, doch sofort übertrumpfte ihn mit seiner ganzen Weite und übermenschlichen Kraft der glanzvolle, lebensfrohe, ach, so leidenschaftliche Kavalier Rubens!!! Wie frohlockte mein Herz, wie freute ich mich. Und o Wunder, was wahre Kunst vermag! Im Nu war ich neugeboren, nicht wiederzuerkennen unter dem Ansturm dieser Gefühle, die Hochstimmung betäubte Müdigkeit und Schmerzen, und irgendwo darunter pochte krampfartig meine ohnmächtige, arme, erbärmliche Migräne, und wie ich begeistert um mich schaue, blickt mich aus der tiefen Flucht der Säle der prachtvolle Tizian an! Mein Herz hüpfte noch höher aus Vorfreude auf das Kommende!! Doch mein Gott, was wahre Kunst bewirkt: Einen Saal weiter trifft mich ein Schlag tief ins Herz, tief ins „Menschliche“: Rembrandt. Es war sein „Jakobssegen"!! Das war das Höchste, dass ich den sah, das war Bach!“


In Marburg entstanden Themen und Bilder, die sich für viele kommende Jahre durch sein Schaffen ziehen sollten.

Nachdem Boris P. in der Universität sein Dieser Brief von Leonid Pasternak ist voller Ausrufezeichen, manchmal setzt er gleich zwei auf einmal.

Ebenso begeistert schrieb der Sohn des Künstlers an seinen Freund Schura Stich von dieser Fahrt nach Kassel:

„... Soeben bin ich aus Kassel zurückgekehrt, wo ich mit Papa zusammen die Gemäldegalerie anschaute. ... Dort ist so viel hinreißende Malerei. Allein Rembrandt bedeutet reihenweise Kapitulation vor einer Art Belagerung. Er ist außerstande, sich zu verteidigen...Cohen ist schon absolut und ein für alle Mal Vergangenheit für mich." Fast vier Jahre zweifelte Boris P. an sich und verbarg seine literarischen Versuche vor seiner Umgebung, verbot sie sich, versuchte sich zu enthalten. Im Sommer 1912 war jeder weitere Widerstand unmöglich. In seinem staubigen, unaufgeräumten Zimmer in Marburg belohnte er sich für die lange „Enthaltsamkeit". „Ich habe mich gründlich mit Dichten befasst. Tag und Nacht und wie es kam, schrieb ich Gedichte über das Meer, den Sonnenaufgang, den Regen im Süden, die Steinkohle des Harzes."

(Es folgen drei Strophen ä vier Zeilen.)

Abschlusszeugnis mit den nötigen Testaten erhalten hatte, ging er nach Italien, nach Florenz, wo sich um diese Zeit Leonid Pasternaks Familie aufhielt.

„Der Zug flog heran, ich umarmte den Kameraden und sprang, nachdem ich den Koffer hochgestoßen hatte, auf die Plattform... die Tür schnappte, ich preßte mich ans Fenster. Mit einem Bogen schnitt der Zug alles Erlebte ab, und früher, als ich es erwartet hatte, sausten aufeinanderstoßend vorbei: - die Lahn, der Bahnübergang, die Chaussee und das Haus, das noch eben meins war. Ich riß den Fenstergriff nach unten. Er gab nicht nach. Plötzlich kam er polternd von selbst herunter. Ich beugte mich, so weit ich nur konnte, hinaus. Der Waggon wankte in einer scharfen Kurve, nichts war zu sehen. Ade, Philosophie, ade, Jugend, ade, Deutschland." (Schutzbrief, S. 48) „Leb wohl, Philosophie..."

Diese Worte aus dem „Schutzbrief' sind in Reliefbuchstaben auf einer Bronzetafel an der Vorderfront des Hauses Gießelbergstraße 15 zu lesen, in dem Boris P. drei Sommermonate verbrachte: Boris Leonidovic Pasternak (1890-1960). Nobelpreisträger 1958. Student der philosophischen Fakultät in Marburg 1912. „Leb wohl, Philosophie“.

Bemerkenswert ist, dass Leonid P., der Vater, diesen plötzlichen Verzicht auf die philosophische Karriere (ebenso wie seinerzeit auf die musikalische) nicht nur verstand, sondern den Sohn in seiner Entscheidung sogar noch bestärkte.

Ich habe einen wunderbaren Vater, der kein bisschen dadurch verdorben ist, dass er keine achtzehn mehr ist", schrieb er an Stich. Bedenke, als mir Cohen diese Dinge sagte - ein anderer hätte Gründe des gesunden Menschenverstands genannt u. dgl., er aber gab mir statt dessen Recht. Du musst das alles abschütteln, hat er gesagt, du bist dir seelisch selber nicht mehr ähnlich, geh bitte in die literarische Boheme oder zum Teufel, aber du kannst doch wirklich nicht dieser synthetische Jude bleiben, mit meilenweitem Abstand von den Dämmerungen und Legenden der Kunst usw.... usw.. ,Wir beide blasen in dasselbe Horn", schreibt er mir! Na?!“

Im Frühling des nächsten Jahres (1913) legte Boris P. die Abschlussexamina an der Moskauer Universität mit „Durchaus befriedigend" ab und erlangte das Diplom eines Kandidaten der Philosophie ersten Ranges (entspricht unserem Doktortitel, E. Ah.). Das Diplom verblieb in der Universitätskanzlei, da Boris P. es nie abholte.

Im April des folgenden Jahres 1922 wurden die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland wiederhergestellt, und Boris bemühte sich nun darum, zu den Eltern nach Berlin zu reisen, um ihnen seine junge Frau vorzustellen - die Künstlerin E. W., geborene Fourier. Ihn quälte das deprimierende Gefühl, dass er nicht arbeiten konnte, dass er erschöpft war...

Also fuhr Boris P. nach Berlin, um zu arbeiten. Das machte es notwendig, etliche Kisten mit Büchern mitzunehmen.

Anfang Mai erschien in Moskau beim Verlag Grshebin in einer Auflage von 1000 Exemplare Boris Pasternaks Buch "Meine Schwester - das Leben". Erst im August 1922 waren alle nötigen Dokumente beisammen. Das schwere Gepäck machte den Seeweg von Petrograd aus notwendig (Abreise am 17. August 1922).

Mittlerweile waren viele russische Verlage (darunter der Verlag Grshebin) nach Berlin gegangen. In Berlin wurde die zweite Auflage von "Meine Schwester - das Leben" und - im Verlag „Helikon“ „Themen und Variationen“ gedruckt.

Marina Zwetajewa, mit der Boris P. kurz vor der Abreise einen Briefwechsel begonnen hatte, traf er in Berlin nicht an. Sie war Ende Juli nach Prag abgereist.

Bald darauf (Mitte Oktober) kommt Majakowski nach Berlin. Ilja Ehrenburg beschreibt in seinen Erinnerungen die Begegnung Pasternaks und Majakowskis (wie auch ihre Versöhnung) als „ebenso stürmisch wie den Bruch". Abends traten beide im Cafe Leon auf (auch im „Landgraf und in der „Prager Diele"); Majakowski las, Pasternak zugewandt, aus seiner „Wirbelsäulenflöte". Pasternak las aus "Meine Schwester - das Leben" .

Vadim Andrejews Erinnerungen


Darüber sind Vadim Andrejews Erinnerungen erhalten: „Er sprach die Worte der Gedichte rhythmisch und dumpf. Sprach fast ohne Gesten, extrem angespannt und in der musikalischen Genauigkeit des gesprochenen Wortes absolut sicher... Während ich Pasternak zuhörte, wurde zunehmend alles zu Versen. Wie Orpheus verwandelte er alles in Poesie: den gebeugten Rücken Ehrenburgs, Schklowskis rot umränderte, erregte Augen; Dulja Kubriks neuen Smoking, die Gestalt des Kellners in der abgetragenen weißen Jacke, die Marmortischchen des Cafes... Die dumpfe Stimme entzündete die gesprochenen Worte, und die Verszeile flammte auf wie eine Reihe Straßenlaternen. Pasternaks Gesicht war konzentriert, verschlossen. Ich dachte, so müsste Beethoven ausgesehen haben, wenn er taub seiner Musik lauschte...


In einem Brief an Bobrow schrieb Pasternak, Majakowski „war völlig hilflos wie ein kleines Kind, gerührt und begeistert von der gewaltigen, lebendigen Großstadt, vom romantischen Hintergrund des wahrhaft Deutschen (der sich auch ihm mitteilte), am meisten aber vom tollen Getöse der U-Bahn beim Eintauchen unter die Erde und beim Dahinsausen über Bahnhofsdächern usw. usw..“

Es geht um den Berliner U-Bahnhof „Gleisdreieck", auf dem sich S- und U-Bahn kreuzen. Auch Pasternak kam oft hierher, stieg gern die hohen Treppen hinauf, um den Sonnenuntergang oder die sich unten kreuzenden Bahnlinien zu beobachten. Das Gedicht „Gleisdreieck" stammt aus dem Januar 1923.


Was braucht ein Kauz denn Schöneres im Leben,
als billig seine Kammer abzugeben
für das von Potsdam fällige Abendrot,
da heulend unter ihm ein Abgrund droht?
(Deutsch von E. Ahrndt)


Boris Pasternaks Kontakte zu russischen Literaten in Berlin waren umfangreich. In den Cafes „Prager Diele“, „Leon“ und „Landgraf“, in Verlagen und Privatwohnungen trifft er sich mit Ehrenburg, Schklowski, B. Saizew, A. Bely, W. Chodassewitsch. In Berlin erlebte Pasteraak zum ersten Mal eine ausgesprochene Liebeserklärung, über die er sein Leben lang staunte, und zugleich das Eingeständnis, seine Gedichte nicht zu verstehen. Es entstand die Meinung, dass man, um Pasternak zu lieben, ihn gar nicht zu verstehen brauche. B. Saizew sprach von Pasternaks „ausdrucksstarker und unnachahmlicher Unbegreiflichkeit“.

„Aber ich will", sagte Pasternak, „dass auch die Syrjanen (Komi. E. Ah.) meine Gedichte verstehen.“ Hier in Berlin hatte er plötzlich das Gefühl, alles noch einmal von vorn beginnen zu müssen. Es drängte ihn, sich zu verschließen und mit sich selbst ins reine zu kommen.

„Wir haben es hier sehr gut, und ich bin zufrieden mit Berlin, einem Ort, wo ich wieder einfach Zeit verbringen kann und vielleicht wieder ich selbst werde. Und der einzige wunde Punkt, an den ich rühren darf, ist der Gedanke,... braucht es wirklich eine riesige Stadt, eine fremde, komplizierte Stadt mit tausend Straßen, Verbindungen, Bequemlichkeiten, Schönheiten, Möglichkeiten und Zerstreuungen, braucht es wirklich dieses Leben hier, verbunden mit so viel Aufwand, so vielen Formalitäten, nur um tagelang in einem Zimmer zu sitzen und Dickens in russischer Übersetzung zu lesen oder überhaupt nichts zu tun, fährt man dazu ins Ausland? - Diesen Gedanken fürchte ich nun eben nicht. Diesen Zweifel gestatte ich mir zuversichtlich und mit Freuden.“

Über den Grund seines Rückzugs aus unlängst bestehenden Bekanntschaften schrieb er: „Nach langen bürgerlichen' Streitigkeiten und Balgereien, ohne welche die Emigration offenbar nicht leben kann, wurde ich, der mit Rücksicht auf die mir von allen verziehene Kindlichkeit und bürgerliche Bedeutungslosigkeit von diesem Element Verschonte und Beiseitegelassene, urplötzlich von ihm bemerkt, aufgestört und zum Handeln gedrängt. Mit Müh und Not habe ich mich davon losgemacht, um den Preis meiner Einsamkeit..."

Mit dem neuen Jahr 1923 erschien im Berliner Verlag „Helikon" der neue Gedichtband „Themen und Variationen", der wie ein musikalisches Werk aufgebaut war, „wo sich Grundmelodien verzweigen und, ohne die Beziehung zum Hauptthema zu verlieren, ein eigenständiges Leben beginnen." Boris Pasternak „ging endlich an die Arbeit", wie er schrieb. Er schreibt an der noch in Moskau begonnenen Prosa weiter („Drei Kapitel einer längeren Erzählung“), schreibt einen Gedichtzyklus.

In den ersten Februartagen fuhr Boris P. nach Marburg, um es seiner Frau zu zeigen und auch, um sie, die sich nach Moskau sehnte, mit Harzlandschaften und Gemälden der Kasseler Bildergalerie zu zerstreuen.

Die neuerliche Begegnung mit Marburg ist im „Schutzbrief' beschrieben: Später glückte es mir, Marburg noch einmal zu besuchen. Ich verbrachte dort zwei Tage im Februar 1923. Ich fuhr mit meiner Frau dorthin, wusste es ihr aber nicht nahe zu bringen. Damit machte ich mich vor beiden schuldig. Es war jedoch auch für mich schwer. Ich hatte Deutschland vor dem Krieg gesehen, und jetzt sah ich es danach. Das, was in der Welt geschehen war, erschien mir in der furchtbarsten perspektivischen Verkürzung. Es war während der Besetzung des Ruhrgebietes. Deutschland hungerte und fror, ohne sich etwas vorzumachen, ohne anderen etwas vorzumachen, mit einer den Zeiten, wie nach einem Almosen, hingestreckten Hand (einer Geste, die ihm fremd ist), und ausnahmslos insgesamt auf Krücken. Zu meinem Erstaunen traf ich meine Wirtin noch unter den Lebenden. Bei meinem Anblick schlugen sie und ihre Tochter die Hände zusammen. Wie schon vor elf Jahren, saßen sie beide aitf denselben Plätzen und nähten, als ich erschien. Das Zimmer war zu vermieten. Sie öffneten es mir. Ich hätte es nicht erkannt, wenn nicht die Straße von Ockershausen nach Marburg gewesen wäre. Sie war wie früher zu sehen im Fenster. Und es war Winter. Die Verwahrlosung des leeren, ausgekühlten Zimmers, die nackten Weiden am Horizont - alles das war ungewohnt. Die Landschaft, die einmal allzusehr an den Dreißigjährigen Krieg gedacht hatte, endete damit, dass sie ihn sich heraufbeschworen hatte. Als ich abreiste, ging ich in eine Konditorei und schickte den beiden Frauen eine große Nußtorte. Und jetzt zu Cohen. Cohen zu besuchen war unmöglich. Cohen war tot.

Der Tag der Abreise, der 21. März 1923, war schon vorgemerkt. Leonid Pasternak wollte ein Porträt des Sohnes malen und begann erfolgreich damit, aber Boris hatte keine Zeit mehr, Modell zu sehen, und die Arbeit blieb unfertig. Zum Abschied machte der Vater eine rasche Kohlezeichnung . Sie ist vom 12. März 1923 datiert und trägt die Aufschrift: „Mein Sohn Boris". Heute befindet sie sich im Ashmolean Museum in Oxford. Sie vereinbarten, dass Boris übers Jahr wiederkommen solle, dann würde das Porträt abgeschlossen; aber es zeigte sich, dass sie sich zum letzten Mal im Leben gesehen hatten.

Zum Abschied schenkten die Eltern ihrem Sohn zwei Bücher „Neue Gedichte" von Rilke. Beide, der erste und der zweite Band, waren im Leipziger Inselverlag gedruckt, so wie auch das Buch, das Rilke dem Künstler Pasternak selbst geschenkt hatte („Das Stunden-Buch", 1905, und „Requiem", 1921) und enthalten Bleistiftanmerkungen von Boris Pasternak.

Nach der Rückkehr nach Berlin im Dezember 1936 erscheint es wünschenswert, nach Moskau heimzukehren. Von fern, von Berlin aus, stellte Leonid P. sich vor, dass gerade dort der Drang zu künstlerischer Bildung, zur Natur, zur Form erhalten geblieben sei... Er beabsichtigt in Moskau eine Ausstellung seiner Arbeiten zu veranstalten. Obwohl er in ständigem Briefwechsel mit den Söhnen stand, konnte er sich nicht richtig vorstellen, was vor sich ging. Josephina, die sich im Juni 1935 in Berlin mit ihrem älteren Bruder traf, hatte den Eltern nicht erzählt, in welchem Zustand nervlicher Erschöpfung und Depression er da gewesen war. Boris Pasternak hatte auf der Durchreise zum Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris einen Tag in Berlin verbracht. Die sowjetische Delegation konnte nur dann an diesem Kongress teilnehmen, wenn in Europa bekannte Schriftsteller dazu gehörten - Boris Pasternak und Isaak Babel.

„Als ich nach Paris fahren sollte und krank war...", schrieb Boris Pasternak am 1. Ok¬tober 1937 an die Eltern, „lagen die Gründe in der Luft - im weitesten Sinne...” „... in der damaligen Melancholie fühlte ich den Atem des Todes auf mir.” Boris P. nannte diesen Zustand „innere Hölle”.

Übersetzung aus dem Russischen: Erich Ahrndt






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