Aus dem Buch von Irina Odoevceva,
Na beregach Seny, ISBN 5-352-01857-1
Azbuka Klassika, 2006.
Übersetzung: Olga Koseniuk
Es ist schon drei Monate her, als ich für immer, was ich aber noch nicht ahne, S.-Petersburg verlassen habe. Den ersten Monat verbrachte ich in Riga, der Stadt. die mein Vater für sich zum festen Wohnsitz gemacht hatte. Danach bin ich nach Berlin gereist.
Ob es mir hier gefällt, im Ausland? Nein, überhaupt nicht. Hier ist alles nicht wie es sein soll. Nicht davon habe ich in S.-Petersburg geträumt, nicht so habe ich mir mein Leben im Ausland vorgestellt.
Oft habe ich den Wunsch, zurückzukehren, aber ich wage ihn nicht einmal auszusprechen – mein Vater würde eine Krise kriegen, wenn er hören würde, dass ich nach S.-Petersburg zurück will.
Ich kann niemandem anvertrauen, dass ich enttäuscht bin. Die meisten Flüchtlinge aus Russland sind vom Berliner Leben begeistert und genießen es. Man stelle sich nur vor: Geschäfte, wo man alles kaufen kann, Restaurants, Cafés, Taxis. Was kann man sich da noch wünschen?
Von Gedichten scheinen alle hier vergessen zu haben. Es fällt einem schwer zu glauben, dass die selben Menschen noch vor Kurzem die unbeleuchteten Straßen entlanggingen, müde, hungrig und frierend, beim Frost und Regen, oft durch das ganze S.-Petersburg durch, nur um im Haus der Künste oder im Haus der Literaten Gedichte zu hören.
In Berlin wohne ich allein, als eine „Strohwitwe“. Grigori Ivanov reiste vor einer Woche nach Paris, um seine kleine Tochter Lenočka zu besuchen, und, natürlich, seine erste Frau. Er reiste mit meiner Erlaubnis und sogar meinem Segen: ich bin, Gott sei Dank, nicht eifersüchtig.
Für die Zeit seiner Abwesenheit habe ich es mir gemütlich gemacht: ich habe ein Schlaf- und ein Empfangszimmer in einer deutschen Pension, und mich, die „Strohwitwe“, besuchen ständig Freunde und Bekannte, die er gebeten hat, um mich zu sorgen.
Morgens, wie es sich gehört, gehe ich einkaufen, dann esse in Restaurants „Der Bär“ und „Der Förster“ zu Mittag. Meine Abende verbringe ich in diversen Cafés und Sammellokalen der Flüchtlinge.
Also, wie nach Ozup:
Ich verbringe meine Zeit sinnvoll,
Ich studiere einen modernen Tanz ein,
Ich gehe ins Kino,
Das gehört sich doch auch.
Die modernen Tänze lernen wir alle in Berlin fleißig zu tanzen. Für sie begeistert sich auch der grauhaarige Andrej Bely, der sie, wie damals in Nizza, mit Philosophie verbindet. Für ihn ist ein Tag ohne Tanz – ein verlorener Tag. Stundenlang beschäftigt er sich in einer „Tanzakademie“ mit einem hingerissenen Gesichtsausdruck einer besonderen „Knochengymnastik“ und tanzt wie ein Faun, umgeben von Nymphen.
Das ist eine ziemlich schockierende Schau, besonders wenn die Tanzereien in einer Berliner „Diele“ stattfinden, wo getanzt wird. Dort lässt Andrej Bely seine Tanzpartnerin plötzlich allein stehen, nachdem er mit ihr ein paar Foxtrott-Schritte gemacht hatte, und fängt an, „immer weiter ausholend und in Kreisen, in Kreisen“, um sie herum rhythmisch hüpfen, schlängelnd, wie während einer Faunischer Orgien, und schneidet zugleich Grimassen. Die Arme wünscht sich bestimmt während dessen weit weg zu sein und wagt es nicht, sich zu bewegen.
Die gutgesinnten Deutschen schütteln nur mit dem Kopf, dem „verrückten Herrn Professor“ zusehend, trinken ihr Bier und sogar applaudieren ihm.
Heute ist ein ganz besonderer Tag. Heute ist mein erster Ball. Der erste echte Ball, zu dem ich hinfahre. Denn in S.-Petersburg ging ich immer zum Ball zu Fuß, in Filzstiefeln, bis ins Knie im Schnee versinkend, ein Säckchen mit meinen Sommerschuhen in der Hand. Eigentlich hatte ich auch damals keine Ballschuhe und kein eigenes Ballkleid. Ich musste mit den Ballkleidern meiner verstorbenen Mutter zufrieden sein, die zwar in Paris genäht und von mir eilig und unbeholfen abgeändert wurden. Und hier fahre ich zum ersten Mal zum Ball, ich habe ein extra angefertigtes weißes Kleid aus Seide an, mit großem Ausschnitt, einem sehr breiten Rock und der festgeschnürten Taille. Ich habe eine Ballfrisur mit Schleife aus Tüll und Brokatballschuhe. Leider, fahre ich nicht mit der Kutsche, sondern mit Taxi. Nikolaj Ozup und mein Bekannte aus Peterburg, Boris Baškirov, ein „Halbpoet“, so nennen wir Leute, die „Gedichte ohne rechtfertigende Gründe“ schreiben, holen mich ab.
Ich bin, wie es sich gehört, ein wenig aufgeregt, habe eine Feststimmung, denn der erste Ball ist ein sehr wichtiges Ereignis im meinem jungen Leben ist. Und obwohl ich schon seit zwei Jahren die Ehefrau von Georgi Ivanov bin, fühle ich mich fast wie eine Debütantin.
Endlich bin ich am Ball. Plötzlich verspure ich Enttäuschung. Nein, es ist schon wieder nicht das, was es sein soll. Unsere Bälle in S.-Petersburg waren ganz anders: etwas großmächtige war da, eine tragische Größe und Pracht.
In den riesigen Kronsaalen der schwarzmarmornen Villa von Graf Zubov auf dem Issakienplatz, nicht beheizten und kärglich belichteten, haben wir uns, mit den Zähnen vor Kälte klappernd, prächtig amüsiert, getanzt und gelacht bis sich im Kopf alles drehte. Ich weiß noch, wie an einem solchen Ball, im Winter 1920, fragte jemand alle Anwesenden aus, wo man hier Wein bekommen kann. Auf die Antwort, dass es hier je keinen Wein gab erwiderte er mit Stanen und zeigte auf mich:
Was hat denn die Frau zu sich genommen? Ohne Wein kann man nicht so gut gelaunt sein!
Hier war alles klein und langweilig. Auf allem lag ein Belag der Kleinbürgerlichkeit, der Mittelmäßigkeit. Alles war sehr ordentlich und anständig und musste eigentlich gefallen: das Orchester und die leuchtenden Lüster, die sich wie im Spiegel im gewachten Parkett widerspiegelten und Blumensträuche in Kübeln und das Büfett in der Tiefe des Saals mit vielen Flaschen, Torten, Kuchen und Sandwichs. Aber mir gefällt es nicht, ganz und gar nicht. Nachdem ich mich umgesehen habe, beginne ich schon die mir wenig bekannte Langeweile zu empfinden.
Obwohl der Ball meine Erwartungen nicht erfüllt hatte, verflog das Gefühl der Enttäuschung und der Langeweile, als ich mit dem Tanzen begann. Ich fing an mich zu amüsieren. Es war nicht so, wie in S.-Petersburg, aber trotzdem lustig. Ich finde sogar, dass es amüsant war. Natürlich schlechter, als in S.-Petersburg, aber gut, auf eine eigene, auf die Berliner Art gut.
- Ich habe einfach Heimweh, das erklärt alles. Davon kommt die ganze Unzufriedenheit.
- Hier gibt es viele bekannte Petersburger, Schriftsteller und Dichter, die ich noch nicht persönlich kenne. Ozup, der früher als ich nach Deutschland kam, stellt mich allen vor, A. Tolstoj, Minsky, Erenburg.
- In einer Pause zwischen zwei Tanzen kommt Baškirov.
- Hier ist Igor Severjanin. Möchten Sie ihn kennen lernen?
- Igor Severjanin? Ich will. Ich will sehr! Zeigen Sie mir, wo er ist. Ich habe ihn noch nie gesehen. Nicht mal auf einem Bild. Wo ist er?
- Dort, am dritten Tisch, - zeigt Baškirov, - mit seiner Prinzessin - Ehefrau, wie er sie nennt, obwohl sie einer Prinzessin nicht gleicht. Sehen Sie?
Am dritten Tisch sitz wahrlich eine bescheidene junge Frau, die nicht wie eine Prinzessin aussieht, in einem dunklen Kleid mit langen Ärmeln und einer einfachen alltäglichen Frisur, ohne Puder. Ihre Nase glänzt verräterisch. Neben ihr sitzt ein großer Brünett im altmodischen langem Gehrock. Sein großes unbewegliches Gesicht scheint wie aus dem Holz geschlitzt. Er hat eine gerade arrogante Körperhaltung. Er ist so prüde und steif wie sein allzu großer Kragen, der sein Kinn stützt. So was trägt man nicht nur in Berlin, in S.-Petersburg nicht mehr.
Er schweigt mit einem konzertiert-unruhigen Gesichtsausdruck eines Reisenden, der am Bahnhof auf Anschluss wartet und fühlt sich sichtlich fehl am Platz. Keiner achtet auf ihn. Als ob Keiner wusste, wer er ist.
Ist es wirklich Igor Severjanin? Derselbe „Genie – Igor Severjanin“, der von sich stolz behauptete:
Ich bezwang die Literatur,
donnernd, wie ein Adler
Bestieg ich den Thron
Nein, ich habe mich den „Veilchenprinzen“ ganz anders vorgestellt.
- Ich gehe und sage ihm Bescheid. Warten Sie. Ich bringe ihn gleich.
Baškirov geht, um Severjanin zu holen und ich bleibe neben der Wand und warte.
Ich sehe, wie Baškirov mit Severjanin spricht und er schüttelt den Kopf, ohne sich vom Platz zu rühren. Baškirov kommt zurück, verlegen und bestürzt.
- Stellen Sie sich vor, er meinte, er sei gewohnt, dass die Damen zu ihm kommen, um ihn kennen zu lernen, den Damen hinterherlaufen will er nicht. Auf keinen Fall!
- Was für ein Wichtigtuer! Na und! Ich kann auch ohne den Genie Igor Severjanin gut leben.
Ich würdige ihn mit keinem einzigen Blick und gehe tanzen. An Severjanin verlor ich keinen Gedanken bis zum Ballende mehr und war gerade dabei, mein Heimweg einzuschreiten, als er plötzlich in Begleitung von Baškirov vor mir stand. Ich will vorbei, er stellt sich mir im Weg. Baškirov stellt ihn mir feierlich vor. Severjanin beugt sich vor, ich reiche ihm die Hand. Er küsst sie so, als ob es ein besonderes Zeichen des Wohlwollens seinerseits wäre. In seinen Vorstellungen sollte vielleicht er einer Frau die Hand zum Küssen reichen.
- Sie wollen schon weg? Ich hätte Sie gerne gesprochen. Könnten Sie noch einen Moment bleiben und uns am unserem Tisch Gesellschaft leisten? Er fügte hinzu: - Ich bitte Sie sehr.
- Nein, danke! – sage ich. – Es ist Zeit für mich, nach Hause zu gehen. Ich bin müde. Meine Absage verwundert ihn sichtlich, auf seinem Gesicht liegt ein Schatten der Unzufriedenheit.
- Sie wollen nicht? Und ich wollte Sie sprechen, Sie richtig kennen lernen. Und mit einer beleidigten Miene: - Aber was soll`s, das ist nicht meine Art, mich bei Frauen so aufzudrängen. Fahren Sie mit Gott!
- Nein, nein, - mischt sich Baškirov ein. Das kann man so nicht lassen. Wir müssen ein Treffen organisieren, - er sieht mich bittend an, - bei Ihnen. Morgen oder Übermorgen? Das wird fabelhaft!
- Gegen dieses Projekt habe ich nichts einzuwenden, - antwortet Severjanin hochmutig.
- Wundervoll – freut sich Baškirov.
Mir bleibt nichts anderes üblich, als zuzustimmen.
- Wenn Sie Zeit haben, Igor Wasilèvič, kommen Sie zu mir übermorgen, am Dienstag, auf eine Tasse Tee, mit ihrer Frau.
Sein Gesicht leuchtet auf – meine Einladung und die Tatsache, dass ich seinen Vor- und Vatersnamen kenne, ist ihm sichtlich angenehm.
- Das ist mir eine Ehre…
Majestätisch küsst er meine Hand wieder.
- Ich hole Sie ab – verspricht ihm Baškirov und bringe Sie hin, warten Sie auf mich!
Ich nicke Severjanin zum Abschied: „Also dann bis Dienstag, Igor´ Vasiljevič!“ und gehe die Treppe herunter zum Ausgang.
Am Dienstag warte ich, nachdem ich Gebäck und Törtchen zum Tee besorgt hatte, seit vier Uhr Nachmittags, auf Severjanin und seine Frau. Ich warte ungeduldig.
Ich esse heute zu Mittag bei den deutschen Freunden meines Vaters. Ich muss es noch schaffen, mich umzuziehen, bevor ich zu ihnen fahre.
Mittlerweile ist es sechs Uhr, die Severjanins sind noch nicht da. Ich fange an nervös zu sein. Wenn sie noch eine Halbestunde wegbleiben, kann ich sie nicht mehr empfangen. Zum deutschen Mittagessen zu kommen, wenn man in aller Form eingeladen ist, ist einfach unmöglich. Nie mehr würde man mich einladen und ich würde als eine Barbarin gelten, die Bekanntschaft mit der man kündigen muss.
Viertel nach sieben erscheinen sie endlich. Mit einer Zigarre im Mund betritt Severjanin das Zimmer. Ihm folgen Baškirov, dessen Gesicht schief vor Nervosität ist und die ebenfalls aufgeregte „Prinzessin“.
Ich versuche meine Unzufriedenheit zu verbergen, begrüße sie sehr höfflich und teile ich ihnen mit, bevor sie eine Chance bekommen, mir den Grund der Verspätung zu erklären, dass ich leider in einer halben Stunde wegfahren muss. Nicht desto trotz ist noch genug Zeit für eine Tasse Tee.
– Nehmen Sie bitte Platz!
Die „Prinzessin“ lässt sich schüchtern auf den Stuhlrand nieder. Severjanin bleibt stehen und schaut sich skeptisch den Tisch an.
– Wein? Haben Sie Wein? – Fragt er in schroffem Tonfall.
– Ich habe keinen Wein, – erwidere ich.
– Ich trinke keinen Tee, – sagt er deutlich. – Schicken Sie jemanden Wein holen! Geht auf meine Rechnung!
Erstaunt blicke ich zum verunsicherten Baškirov auf. Er erklärt schnell und unklar, dass Severjanin unterwegs viele Cafés und Bars aufsuchte, um sich den Mut und die Inspiration einzuflössen.
– Und jetzt… Seien Sie bitte nicht böse. Verzeihen Sie. Verstehen Sie… Nein, ich bin nicht verärgert. Ich bitte der „Prinzessin“ die Törtchen an und sie legt eins davon ängstlich auf ihren Teller aber es oder den Tee, den das Zimmermädchen ihr serviert hatte, anzufassen traut sie sich nicht. – Fahren wir ins Restaurant! – verlangt Severjanin. – Fahren wir! Wozu hier die Zeit vergeuden? So eine Langeweile!
Ich war der Meinung, dass er es wirklich nicht brauchte, hier zu bleiben. Ich flüstere Baškirov zu:
– Führen Sie ihn hier raus!
Baškirov hält ihn unter den Arm.
– Richtig, lassen Sie uns ins Restaurant fahren! Gehen wir! – und führt ihn zur Tür.
Die „Prinzessin“, rot vor Scham, steht auf, reicht mir die schmale Hand und flüstert:
- Ich bitte um Verzeihung, ach, verzeihen Sie!
Severjanin bleibt plötzlich stehen und dreht sich zu mir.
– Und Sie? Ziehen Sie sich an! Ohne Sie gehe ich nicht. Ohne Odo-ev-ceva gehe ich nicht! Los! Beeilen Sie sich!
Baškirov zerrt ihn heraus.
– Odoevceva kommt uns nach. Ehrlich. In fünf Minuten, - beschwichtigt Baškirov.
- Aber schnell, – sagt Severjanin gebieterisch. Nicht das wir auf Sie lange warten müssen. Ich hasse es, zu warten! – Er lässt sich endlich herausführen.
Die „Prinzessin“ folgt ihm fast weinend.
– Verzeihen Sie. Verzeihen Sie bitte! – wiederholt sie immer wieder.
Ich schließe die Tür und seufze erleichtert. Gott sei dank er ist weg. Er könnte sonst noch Geschirr kaputt schlagen und ein Theater machen. Ich bin also noch glimpflich davon gekommen. Leider nicht ganz. Als er die Treppe herunter ging, klingelte er in allen Wohnungen.
„Er kann mir für immer gestohlen bleiben! Ich treffe mich nie wieder mit ihm, nie wieder!“ – beschlisse ich und ziehe mich rasch um.
Nächsten Morgen erscheint Baškirov bei mir mit der Bitte zu verstehen und zu vergeben: „Severjanin ist am Verzweifeln. Er konnte nicht schlafen. Er träumte davon, sie zu verzaubern, wie einst all seine unzähligen Frauen, die ihn anbeten, und, unterwegs, zur Inspiration…“
- Ich bin nicht sauer, – unterbreche ich ihn. – Richten Sie es bitte Severjanin aus – ich verstehe und vergebe. Aber ich möchte ihn nicht sehen. Nie wieder!
Baškirov fasst sich mit einer theatralischen Geste am Kopf. – Oh Schreck! Das ist eine Katastrophe! Denn er will sie heute noch besuchen kommen. Sie können doch nicht so unbarmherzig sein.
– Hören Sie auf. Kein Schreck, Keine Katastrophe. Grüßen Sie ihn und sagen, ich wünsche ihm und seiner kleinen Estin alles Gute. Er soll nicht traurig sein. Sie lassen mich bitte auch zufrieden, sonst werde ich wirklich sauer und nicht nur auf ihn, sondern auf Sie und werde Sie auch nicht mehr empfangen.
Es vergingen einige Tage, voll mit unterschiedlichsten Eindrucken, denn hier, in Berlin, war das Gefühl des Seins nicht dem vorherigen, petersburger, ähnlich. Ich war mit diesen neuen für mich Eindrucken beschäftigt und dachte nicht mehr an Severjanin, Baškirov wagte es auch nicht mehr, mich darauf anzusprechen.
Ich bin im meinen Zimmer und lese, als das Zimmermädchen mit weißer Schürze – hier findet man noch solche – mir mitteilt, dass ein Herr nach mir fragt. Nein, seinen Namen hat er nicht genannt. Ich staune. Ich erwarte niemanden. Meine Freunde und Bekannte gehen ohne Weiteres rein. Wer könnte das bloß sein?
Ich gehe in die Diele. Am Fenster steht Severjanin im Mantel, mit einem Hut in der Hand. Er sieht mich, zuckt zusammen und rennt so schnell zu mir, dass ich einen Schritt zurück trete.
- Sie werden mich nicht rausschmeißen? Ich fahre morgen fort, aber ich kann es nicht, bevor sie mir verzeihen haben. Ich kann so nicht wegfahren… - Er ist sehr blass, seine Stimme zittert: - Verstehen Sie, wie schrecklich es für mich ist. Dass ich das noch miterlebe, dass ich bei einer Dame nicht willkommen bin!
Ich reiche ihm die Hand.
- Beruhigen Sie sich, und - bleiben. Gehen wir zu mir.
– Sie schmeißen mich nicht raus? Stimmt´s?..
Ich gehe den Korridor entlang, er folgt mir. In meinem Zimmer setze ich mich auf das Sofa und zeige ihm auf einen Platz neben mir, aber er bleibt stehen, ohne den Mantel auszuziehen.
– Legen Sie bitte Ihren Mantel ab und nehmen Sie Platz, – sage ich. Er steht vor mir, lang, schüchtern, verlegen.
– Ich gehe gleich wieder. Ich möchte Sie nicht aufhalten. Aber wenn Sie gestatten…– er legt seinen Mantel ab und setzt sich jedoch nicht in meiner Nähe und nicht in den Sessel, sondern auf den Stuhl. So schüchtern, ich kann den selbstzufriedenen hochmutigen, „steifkragrigen“ Severjanin vom Ball nicht wiedererkennen.
- Es war mir eine Notwendigkeit, Sie zu sehen. Ich könnte einfach nicht anders…
Was könnte es nicht? Ich frage nicht danach.
Er, scheinbar sicher, dass er jetzt verstanden wird, redet schnell weiter:
– Ich bin sehr, sehr unglücklich. Sie können Sich nicht einmal vorstellen, in welchem Ausmaß! Die Tatsache, dass es mir, den Frauen wie Gott einbeteten, so was ereignet könnte, hat mich fertig gemacht. Wissen Sie noch, wie in einer Erzählung Čechovs? Ein armes Mädchen, hungrig, das den ganzen Tag nach einem Job gesucht hatte, halbtot vor Erschöpfung… und am Abend in einem Büro lies sie ein Türsteher nicht vorbei, schubste sie: „Die Stelle ist schon besetzt! Ich sage, besetzt“! Er schubste sie leicht, jedoch drehte sie sich um, rannte zu einer Brücke und sprang in Neva! Alles konnte sie aushalten, aber das machte sie fertig. Wie Ihre Absage.
– Aber ich wollte Sie nicht beleidigen, – protestiere ich und werde rot, – auf keinen Fall. Ich habe Angst vor Betrunkenen. Und vor einem Theater.
– Ja, ja. Sie konnten nicht anders. An mich haben Sie dabei nicht gedacht. Ich ging Sie nichts an.
Ich weiß, dass er recht hat. Er ging mir nichts an. Aber jetzt… Jetzt schon und wie! Er tut mir so leid! Ich möchte ihn irgendwie trösten. Aber wie? Ich sage das erste, was mir in den Sinn kommt. – Ich bin nie bei Ihren Dichterabenden dabei gewesen, aber ich weiß, dass Sie einen Riesenerfolg hatten, und ich…
Er unterbricht mich:
- Ja, ja. Einen unübertrofenen, Donnererfolg. Man hatte den Straßenverkehr angehalten, als ich im Saal des Parlaments auftrat. Und in Kerč, in Simferopel, an Volga spannte man Pferde aus und trug mich auf Händen, wie Triumphatoren! Wenn man sich erinnert! Kaufmanns Frauen legten Brillantreifen, Ohrringe und Brosche zu meinen Füßen…
Er ist wie verwandelt, seine Stimme bebt vor Aufregung. – Es war wunderbar! Ein Märchen aus „Tausend und eine Nacht“. Sogar noch besser! Sologub führte mich überall in Russland…