Irina Odoevceva (Iraida Geinike, 1895-1990) ist eine der glänzenden und der letzten Literaten des Silbernen Jahrhunderts der russischen Literatur. Ihr Lehrer war der berühmte Dichter Nikolaj Gumiljov. In den Jahren der Revolutionen Anfangs des XX. Jahrhunderts hat die hungernde Petersburger Intelligenz ihre Poems „Zerkleinertes Glas“ und „Der Fuhrmann“ auswendig gelernt. Dichtung war seit der Jugend ihre Lebensaufgabe. Gleichzeitig inspirierte diese Frau viele berühmte Dichter dieser Zeit, u.a. N. Gumiljovs, die ihr ihre Werke widmeten. Ihr, nach Ivan Bunin, „leichtes Atem“, ihre weibliche Anmut und Grazie waren unmöglich zu übersehen. Außerdem war sie eine waschechte Aristokratin in allem – von Gang und Gestik bis hin zur Art ein Gespräch zu führen und der des Denkens.
Georgi Adamovič erinnerte sich: „… Wer von den damaligen Besuchern der petersburger literarischen Treffs kann sich nicht an die schlanke blonde junge Frau erinnern, fast ein Mädchen mit einer riesengroßen schwarzen Schleife im Haar, die mit singendem Tonfall, schnell und sich eilend, mit ihrer französischer Aussprache von „R“, Gedichte vortrug. Alle Zuschauer ohne Ausnahme mussten dabei lächeln, auch diejenigen, die sich zu dieser Zeit das Lächeln längst abgewöhnt hatten“[1] . Jedoch nahm sich Odoevceva selbst nicht so ernst:
Nein, ich werde nie gefeiert, der Ruhm wird mich niemals krönen Darauf, wir auf den Archimandritenrang – Habe ich kein Anrecht Weder Gumiljov noch die böse Presse Werden mich als ein Talent bezeichnen. Ich bin nur eine kleine Dichterin Mit einer riesengroßen Haarschleife…
1921 heiratet Irina Odoevceva den Dichter G. Ivanov. Die Hochzeitsreise wird zum Anfang der fast lebenslangen Emigration (erst kurz vor ihrem Tod, mit dem Alter von 92 Jahren, kehrte Odoevceva zurück, in die Stadt, wo sie ihre Jugend verbracht hatte). Das Land verlassen die Eheleute getrennt: sie besucht zunächst ihren Vater in Riga, fährt dann nach Berlin. Er (Georgi Ivanov) ist dienstlich im Ausland unterwegs, im Auftrag von seinem Arbeitgeber, der Theaterleitung. Von den ersten Eindrücken des Lebens im Ausland schreibt Odoevceva ziemlich ironisch: „Die meisten Flüchtlinge aus Russland sind vom Berliner Leben begeistert und genießen es. Man stelle sich nur vor: Geschäfte, wo man alles kaufen kann, Restaurants, Cafés, Taxis. Was kann man sich da noch wünschen?“ Oft, wenn Irina Odoevceva in Berlin ihren Landsleuten begegnet, stellt sie mit Verwunderung fest: „…von Gedichten scheinen hier alle vergessen zu haben. Es fällt einem schwer zu glauben, dass die selben Menschen noch vor Kurzem die unbeleuchteten Straßen entlanggingen, müde, hungrig und frierend, beim Frost und Regen, oft durch das ganze S.-Petersburg durch, nur um im Haus der Künste oder im Haus der Literaten Gedichte hören zu können“[2] . Den größten Teil ihres Lebens verbrachte die Dichterin in Paris. Sie widmete sich dem literarischen Schaffen, schrieb viel. 1950 wurde in Paris der Sammelband ihrer Gedichte „Kontrapunkt“ und 1975 „Die goldene Kette“ veröffentlicht. Noch erfolgreicher war Odoevceva als Schriftstellerin. Ihr Roman „Der Engel Todes“, herausgegeben 1927, wurde von der russischen Leserschaft im Ausland mit Begeisterung aufgenommen. Damals sagten die Kritiker, dass das Werk von Odoevceva in einer Reihe mit dessen Anton Čechovs steht. Wie dieser Roman, wurden die weiteren Werke von Odoevceva – „Isolda“, „Der Spiegel“, „Gebt die Hoffnung auf“, „Das Jahr aus dem Leben“ (nicht beendet) in viele europäische Sprachen übersetzt, den breiten russischen Publikum bleiben sie jedoch bis heute unbekannt. Typisch für ihren Kulturkreis konnte Odoevceva außer Französisch noch viele Sprachen, ihre Werke schrieb sie auf Russisch. In Emigration fühlten sie und ihr Ehemann, G. Ivanov sich als russische Literaten und veröffentlichten ihre Texte nur in russischer Sprache, auch wenn die Auflagenzahl war sehr bescheiden. Dank der Erbschaft, die Odoevceva kurz nach der Niederlassung in Paris von ihrem Vater bekommen hatte, wurden die Eheleute von den finanziellen Engpässen verschont und mussten sich nicht um das Lebensunterhalt kümmern.
Eine große Resonanz riefen im Emigrantenmilieu die Memoiren von Odoevceva „Auf den Ufern von Neva“ (1967) und „Auf den Ufern von Seine“ (1978) hervor. Einiger der verbliebenen Zeitzeugen beschuldigten die Autorin der Faktenverdrehung und der fehlenden Exaktheit und allgemein standen den Büchern mit einem gewissen Anteil von Nörgelei und Eifersucht gegenüber. Oft wird eine ironische Aussage von V. Nabokov zitiert, den Odoevceva in New York kennen lernte: „So eine hübsche… Wozu schreibt sie noch?“[3] Nicht desto trotz bleiben ihre Memoiren wertvolle historische Quellen, die das Silberne Jahrhundert der russischen Literatur wieder auferstehen lassen. Die Memoiren von Odoevceva sind eine spannende Lektüre. Das erste Buch („Auf den Ufern von Neva“) entführt den Leser in die raue und bewegende Epoche der russischen Revolution… Man begegnet dem romantischen Träumer Nikolai Gumiljov, der sich mit höheren Materien beschäftigt, geht mit der unbegreiflichen Anna Achmatova im verschneiten S.-Petersburg spazieren und nimmt das merkwürdige „Zwitschern“ der Vogelstimme Ossip Mandelstams wahr. Bescheiden hält die Autorin ihre eigene Geschichte und Persönlichkeit in Hintergrund, lebendig und wahrheitsgemäß, hin und wieder sogar ironisch erzählt sie von berühmten Literaten, von ihren guten und verehrten Bekannten, und von der Dichtung, wie vom Höhepunkt des menschlischen Geistes.
Der zweite Teil der „Memoiren“, „Auf den Ufern der Seine“, ist der Emigration und mit ihr im Zusammenhang stehenden Problemen gewidmet. Zum Glück, begegnete Odoevceva hier nicht nur den „von Gedichten Vergessenden. Sie war einer der Letzten, die K.Bal´mont, I.Bunin, I.Severjanin, G.Adamovič, M.Cvetaeva gesehen und gesprochen hatte. Wie ein Panorama entfaltet das ganze verbannte Silberne Jahrhundert vor den Augen des Lesers. Nach dem 1. Weltkrieg kamen ernste Schwierigkeiten in das Leben Irina Odoevcevas: die Erbschaft ihres Vaters war aufgebraucht und das literarische Schreiben wird die Hauptquelle des Familieneinkommens. Alle 37 Jahre der Ehe bringt Odoevceva innige Liebe ihrem Ehemann gegenüber. Er schien ihr „seltsam, geheimnisvoll“ und „ein der besten Menschen, die ihr einmal begegnet haben“. Bekannt ist jedoch, dass der bekannte Dichter Georgi Ivanov, der zwar seiner Frau Liebesgedichte widmete, mochte und konnte nicht, Geld zu verdienen. Nicht umsonst sagte der sarkastische Ivan Bunin zu Odoevceva, sie würde unter dem Pantoffel ihres Mannes stehen. Irina Odoevceva musste zwei Ehemänner zu Grab tragen (der 2. – Jakov Gorbov), sie hat den 2. Weltkrieg überlebt, erlebte Wohlstand und Armut, gegen Anfang der 1980-er erkrankte sie schwer, aber unter allen Lebensumständen behielt sie ihre Standhaftigkeit und ihren Glauben an die geistigen Güter ihrer Jugend:
Auf den Erden war ich stets Vertriebene, Unbehauste Landstreicherin, die barfuß, Und fröhlich ihren Leidensweg ging…
Übersetzung: Olga Koseniuk
[1] «Die berühmten Frauen»: greatwomen.com.ua Zuletzt angesehen am 08.10.2010
[2] Irina Odoevceva „Auf den Ufern der Seine“. Schöne Literatur. Moskau, 1989
[3] Janna Dubinanskaia „Eine kleine Dichterin mit einer riesengroßen Haarschleife“: „Zerkalo Nedeli“ („Der Spiegel der Woche“), № 19 (394) am 25 — 31 Mai 2002.