„Heute bin ich bei den deutschen Freunden meines Vaters zum Mittag eingeladen…zu spät kommen…ist einfach undenkbar. Nun wird man mich nie wieder einladen und für eine Barbarin halten, mit der man besser die Bekanntschaft löst.“
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I.V. Odoevceva |
Wer könnte das Ihrer Meinung nach gesagt haben? Die gleiche Frage kann man sich auch bei der folgenden Äußerung stellen: „Die meisten russischen Emigranten sind begeistert vom Berliner Leben und genießen es. Man stelle sich nur vor! – ein nicht enden wollender Festtag, an dem man sich alles kaufen kann, was man sich nur wünscht, wo es Restaurants, Cafés, Taxis…gibt. Was wünscht man sich mehr?“
Diese Worte stammen von früheren russischen Immigranten und sind uns trotz des zeitlichen Abstands doch sehr vertraut. Wir alle haben wohl schon Ähnliches gedacht und gefühlt.
Weiter können wir ihre Worte zitieren: „An unsere Gedichte scheint sich hier keiner mehr zu erinnern. Es ist kaum zu glauben, dass die gleichen Menschen vor kurzem noch durch unbeleuchtete Straßen liefen, müde, hungrig und durchfroren, durch Regen und Eis, oft durch ganz St. Petersburg, nur um im Haus der Künste oder im Haus der Schriftsteller Gedichte zu hören.“[1]. Diese Worte sind heute noch genauso aktuell und treffend wie damals.
Nachlesen können wir sie in den Memoiren „Na beregach Seny“ (An den Ufern der Seine) der Schriftstellerin Irina Odojevceva, die 1921 aus Russland vertrieben wurde und einen großen Teil ihres Lebens zunächst in Berlin und später in Paris verbrachte.
Inzwischen sind viele Jahre vergangen, aber seit damals hat sich nur wenig verändert. Auch wir vergessen teilweise unsere Gedichte, jedenfalls in der ersten Zeit in Deutschland. Zu den Freuden des neuen Lebens kommen nämlich allmählich auch neue Probleme und Sorgen hinzu. Es fällt uns nicht leicht, die neue Sprache zu lernen, sich an die hiesigen Bedingungen anzupassen und sich an die andere Mentalität zu gewöhnen. Dazu kommt die deprimierende Erfahrung, dass man nirgendwo seine Kräfte richtig einsetzen kann und auch das Wissen und die im früheren Leben erworbenen Erfahrungen scheinbar nicht gebraucht werden. Am Ende fühlen wir sehr schmerzhaft unsere psychische und durch das Informationsvakuum auch tatsächliche Abgeschlossenheit von der Welt. Das Leben beginnt, an uns vorbeizuziehen.
Jahrelang zerbrechen sich unsere Landsleute den Kopf über ihr Schicksal und darüber, wie sie ihren Platz in dieser Welt neu definieren können. „Nun denke ich schon das fünfte Jahr über meine Emigration nach. Ich habe erst in diesen Tagen bemerkt, wie peinlich genau und unentwegt ich über dieses Thema nachdenke…Kurzum, ich denke Tag und Nacht aus irgendeinem Grund über meine Emigration nach, als ob es die einzige Entscheidung in meinem Leben wäre, die ansteht.“ Diese Zeilen finden wir in der autobiografischen Novelle der zeitgenössischen Schriftstellerin Dina Rubina wieder und sehen darin gleichzeitig unsere eigene Stimmung erstaunlich genau widergespiegelt[2].
Schon vor uns gab es Menschen, die etwas Ähnliches durchgemacht haben, die ihre Beziehung zur Umwelt neu gestalten mussten und uns darum Antworten auf unsere heutigen Fragen geben können. Ihre Erfahrungen helfen, uns selbst objektiver betrachten zu können und ein wenig zu abstrahieren von unseren ganz persönlichen Erlebnissen.
Erfrischend und ungewöhnlich wirkt heute auf uns wie Lev Lunc die verschiedenen Typen russischer Emigranten in seinem Werk „Puteschestvie na bol´nitschnoj kojke“ („Reise auf meinem Krankenbett“)[3] beschreibt. Dieser humorvolle, scharfsinnige und ironische Text entstand 1923, als der todkranke Schriftsteller zur Heilung nach Deutschland kam, wohin schon früher seine Eltern emigriert waren. Lunc teilte dabei die Emigranten in drei Gruppen ein.
Die erste Gruppe besteht aus Geschäftsleuten, denen es im Allgemeinen egal ist, wo sie leben, solange das Geschäft nur blüht. Sie kennen keine Nostalgie und an ihr Heimatland erinnern sie sich nur deshalb, weil irgendwo in Russland eine Wohnung zurückgeblieben ist, deren Einrichtung schon beizeiten zu Geld gemacht worden ist. Zur zweiten Gruppe gehören diejenigen, die aus politischen Gründen das Land verlassen mussten. Sie können nicht mehr zurückkehren und richten ihr Leben auf die Informationen und Nachrichten aus, die sie aus ihrer Heimat empfangen.
Die dritte Gruppe ist die größte und hartnäckigste Gruppe. Sie lehnen alles Deutsche ab; Deutschland ist ihnen zu eng und zu stickig. Obwohl sie von niemandem dazu genötigt wurden, ihre Heimat zu verlassen, denken sie nicht daran, dorthin zurückzukehren. Im Hinterkopf wissen sie nämlich genau, dass sie zu Hause wieder ganz von vorn beginnen müssten und in Deutschland dagegen lässt es sich ruhig und komfortabel leben…
Wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass unter unseren gemeinsamen Bekannten sehr viele Vertreter der ersten und der dritten Gruppe zu finden sind. Als Beispiel für einen aktuellen Blick auf die russischen Emigranten können wir die Sichtweise Tatjana Okomenjuks, Korrespondentin des „Vostotschnyj kuryr“ („Ostkurier“), wiedergeben: „Ein Teil von ihnen, wenn auch ein sehr geringer, fügt sich leicht und einfach in die einheimische Bevölkerung ein. Diese Menschen haben von Anfang an kein Problem mit der Sprache und den beruflichen Anforderungen. Meist sind es Spezialisten, die über Arbeitskontakte nach Deutschland gekommen sind und dann für immer hier bleiben…Über sie kann man sagen, dass sie schon als Integrierte nach Deutschland gekommen sind. Dann gibt es noch eine Kategorie unserer Leute…Diese Gruppe ist bedeutend größer als die erste. Sie leben ausschließlich in russischen Ghettos, besuchen nur russische Ärzte. Falls sie arbeiten, dann ausschließlich in russischen Strukturen. Sie lesen nur die russische Presse und Literatur, sehen nur russisches Fernsehen. Dann gibt es noch eine dritte Gruppe. Sie ist die größte der drei Gruppen und die „goldene Mitte“ zwischen den ersten beiden… Diese Gruppe braucht den Austausch mit der einheimischen Literatur, aber aus verschiedenen Gründen weiß sie nicht, wie sie den Kontakt herstellen soll.“[4]
Was ist es, was diese dritte Gruppe von diesem Kontakt abhält?
An erster Stelle ist es sicherlich die ungenügende Sprachkenntnis und die damit verbundene Angst, in peinliche Situationen zu geraten. Verschiedene Komplexe verbinden sich mit noch vorhandenen Ambitionen und der anhaltenden Suche nach Selbstverwirklichung. Die Rede ist hier insbesondere von den Menschen im mittleren Alter, die schon nicht mehr jung und doch auch noch nicht alt sind. Irgendwann haben diese Menschen in ihrem früheren Leben einen Beruf erlernt, haben viel Kraft und Gesundheit in ihn investiert und es geschafft, Karriere zu machen. Es ging also stetig bergauf, wie man so schön sagt. Nun finden sie sich aber in einem neuen Land und damit wieder ganz am Fuße des Berges wieder. Viele verlieren dabei die Orientierung und fühlen sich gekränkt und mutlos.
Wie lässt sich umgehen mit all den schweren Gedanken? Es gibt schon seit langem zahlreiche Ratschläge für vergleichbare Situationen. Zusammengefasst liegt ihr Hauptaugenmerk darauf, die Isolation zu überwinden, in die man mit seinen quälenden Gedanken gerät. Es ist wichtig, sich gute Gesprächspartner zu suchen und diese Kontakte regelmäßig zu pflegen. Noch besser ist es, in irgendeinem interessanten Projekt mitzuwirken, ohne dabei in erster Linie an finanzielle Aspekte zu denken. Hilfreich kann es auch sein, beim Nachdenken über das Leben Rat bei seinen Lieblingsschriftstellern zu suchen.
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Das Leipziger „Literaturcafé“ gibt es erst seit 5 Jahren, aber dennoch ist es schon ein fester Bestandteil im Leben der Leipziger geworden. Hier kann man Anregungen und Anstöße bekommen, die einem helfen, über schwierige Fragen des Lebens und der Literatur nachzudenken. Ein Teil des Materials aus dem „Literaturcafés“ ist in diese Sammlung über das Silberne Zeitalter der russischen Literatur eingegangen.
Viele Wissenschaftler, Schriftsteller und Schauspieler, die zu dieser Strömung der russischen Kultur gehören, waren Emigranten der so genannten „ersten Welle“ und haben in den Jahren der Revolution das Land verlassen. Einige von ihnen haben uns ihre Erinnerungen zurückgelassen, darunter die bereits erwähnten bemerkenswerten Memoiren der Irina Odojevceva „An den Ufern der Seine“. Die Erfahrungen der Emigranten von damals können den heutigen Emigranten wichtige Anstöße geben, und umgekehrt haben auch wir heute ebenfalls unseren Blick auf das Leben und das Werk unserer Vorgänger gefunden.
Mit diesem Buch wollen wir also eine Brücke schlagen von den damaligen Erfahrungen der Emigranten hin in das Hier und Jetzt unserer Gegenwart.
Übersetzung: Dorothea Merz
[1] Irina Odoevceva, Na beregach Seny, ISBN 5-352-01857-1: Azbuka Klassika, 2006, S. 6 – 13.
[2] Dina Rubina, Kamera naezschaet: „Eksmo“, 2007.
[3] Lev Lunc, Puteschestvie na bolnitschnoj kojke: Lev Lunc, Die Affen kommen. ISBN 5-87135-145-X, Reihe: Schriftsteller und Literatur, Verlag Inapress, 2003.
[4] Vostotschnyj kuryr, Nr. 114 – 07.2009 „Aborigeny – druzja ili vragi?“ („Die Einheimischen – Freunde oder Feinde?“)