Im 2013 erhalten russischsprachige Leser erstmals die Möglichkeit, sich mit dem Buch von Richard Gauch und Torsten Schleip „Er war doch nur ein neunjähriger Junge“[1] vertraut zu machen. Wodurch könnte dieses Buch ihr Interesse wecken?
Wodurch könnte dieses Buch ihr Interesse wecken? Diejenigen, die erst seit vergleichsweise kurzer Zeit in Leipzig leben, werden es vielleicht als speziellen Führer zu historischen Orten verwenden. Nur ein Beispiel: „In Leipzig gab es 1938 dreizehn verschiedene Synagogen und vier Bethäuser. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, der so genannten Kristallnacht oder Pogromnacht, wurde die Hauptsynagoge unmittelbar westlich des alten Stadtkerns in der Gottschedstraße in Brand gesetzt und zerstört. Sie war nach Entwürfen von Otto Simonson entstanden, wurde 1855 geweiht und bot 1.600 Besuchern Platz.“ (S. 25) Für viele russischsprachige Menschen in Deutschland (besonders die Flüchtlinge jüdischer Herkunft) werden die in diesem Buch vermittelten Fakten und Ereignisse interessant sein. Es geht vor allem um die Kindertransporte, eine noch immer wenig bekannte Aktion zur Rettung jüdischer Kinder: „Als Kindertransport (auch Refugee Children Movement) wird die Ausreise von fast 10.000 Kindern, die als ‚nicht arisch’ im Sinne der Nürnberger Gesetze galten, aus Nazi-Deutschland beziehungsweise aus den von diesem bedrohten Ländern zwischen Ende November 1938 und dem 1. September 1939 nach Großbritannien bezeichnet. Auf diesem Wege gelangten vor allem Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei ins Exil. Die Ausreise erfolgte mit Zügen und Schiffen. Die meisten Kinder sahen ihre Eltern nie wieder. Oftmals waren sie die einzigen aus ihren Familien, die den Holocaust überlebten.“ (S. 36) Unter den Kindern, die damals nach England geschickt wurden, befand sich auch der Held unseres Buches, Hans Richard Levy, ein neunjähriger Junge. Nach dem Krieg emigrierte er zusammen mit Mutter und Schwester in die USA. Sie wollten nie wieder in ihre alte Heimat zurückkehren. Erst im Oktober 2009 besuchte Hans Richard Levy, inzwischen emeritierter Professor für Biochemie, Leipzig noch einmal. Auf Einladung des MDR-Fernsehens kehrte er gemeinsam mit seiner Tochter für die Produktion einer Folge der Reihe „Die Spur der Ahnen“ in die Stadt seiner frühen Kindheit zurück. Im Interview sagte er, was sicherlich viele von uns nachempfinden können: „Es war schwer für mich. Eigentlich wollte ich nie nach Leipzig zurückkehren. Denn Deutschland stand für mich für die Nazi-Zeit, für den Mord an meinen Verwandten, die in Theresienstadt und Ravensbrück umkamen, und an den vielen Millionen unschuldiger Menschen.“ (S. 62) Die Autoren des Buches wenden sich an einen breiten Leserkreis und nutzen für ihr Anliegen ganz bewusst Materialien privaten Charakters. Sie bringen Auszüge aus der Familienchronik und aus privaten Briefen sowie Fotos aus dem Familienalbum. Dadurch kommen uns die Helden des Buches ungewöhnlich nahe. Sie erscheinen uns fast wie Verwandte. Etwa wenn Charlotte Levy, die Mutter Hans Richards, berichtet: „Nach unserer Hochzeit fanden Berthold und ich eine wunderschöne, moderne Wohnung in Leipzig. Im Jahr 1929 wurde unser Sohn Hans Richard geboren. Er war die größte, einzigartige Freude in meinem Leben. Dann fing 1933 der Terror mit Hitler an und weitete sich zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes aus, die nur allzu früh Bertholds Leben und mein Dasein in Deutschland beendete.“ (S. 18)
Die Autobiographie A. Kabo (Original)
Die Autobiographie A. Kabo (Original )
Während der Arbeit an der russischen Textfassung des Buches fand ich immer wieder Parallelen zur Geschichte meiner eigenen Familie. Bei Kriegsbeginn war mein Vater Alexander Kabo (Jahrgang 1926) nur wenig älter als der Hauptheld des Buches, Hans Richard Levy. Doch wuchs er, glücklich und von seinen Eltern behütet, nicht in Leipzig auf, sondern in Rostow am Don. Als sich die Faschisten der Stadt näherten, drängte meine Großmutter darauf, ihren Mann und die beiden Söhne unverzüglich zu evakuieren. Sie selbst musste damals in der Stadt bleiben, denn sie war Major des medizinischen Dienstes. In den 24 Stunden, die man sie vom Dienst freistellte, schaffte es meine Großmutter für alles zu sorgen: Zwieback als Proviant zu rösten, allen warme Sachen für die lange Fahrt zusammenzusuchen und – was besonders wichtig war – ihren Angehörigen eine Bescheinigung mitzugeben, dass sie Offizier der sowjetischen Streitkräfte war. Das Dokument, aufgrund dessen ihre Familie in der Evakuierung jeden Monat 400 Rubel erhielt, bewahrte ihre Angehörigen vor dem Hunger. Welch bittere Gedanken müssen die Seele dieser aufopferungsvollen Frau während der Reisevorbereitungen gequält haben? Konnte sie denn wissen, ob sie ihre Familie jemals wiedersehen würde? Und woran dachte jene andere, nicht weniger starke Frau, Charlotte Levy? „Der Grad der Verzweiflung, in die man getrieben werden kann, zeigt sich am deutlichsten in dieser Umkehr natürlicher Gefühle und Prinzipien. Glücklich sein worüber? Darüber, seinen kleinen neunjährigen Jungen in ein fremdes Land zu schicken, dessen Sprache er nicht spricht, zu Leuten, die man nicht persönlich kennt, und die Ungewissheit, ob man ihn jemals wiedersieht? Es war eine außergewöhnliche Entscheidung, unser Kind wegzugeben und es die Schlesingers, die wir nie vorher getroffen haben, in ihre Obhut nehmen zu lassen, ihnen die Verantwortung für sein Aufwachsen, die Erziehung und die damit zusammenhängenden finanziellen Belastungen zu übertragen. Hans Richard jedoch in Deutschland zu lassen, wäre einer Katastrophe gleichgekommen.“ (S. 52) In Rostow war es bald schon auch nicht besser. Alle unsere jüdischen Verwandten, die in dem von den Faschisten eroberten Gebiet zurückgeblieben waren, wurden in der berüchtigten Schlangenschlucht erschossen. Meine Großmutter konnte sich nur durch ein Wunder retten. Ihr Schicksal war lange Zeit ungewiss. Der Krieg zerstreute die nahen Verwandten in verschiedene Ecken des Landes. Die langersehnten Nachrichten von den jeweils anderen kamen erst zum Ende des Jahres 1942, und schließlich, nach langen Strapazen, fand die Familie in Kirgisien wieder zusammen. Doch in die Heimatstadt kehrten sie nach dem Krieg nicht mehr zurück. Sie konnten einfach nicht, hatten keine Kraft mehr, noch einmal an der Vergangenheit zu rühren. Heute jedoch weiß ich, dass man das Erlebte nicht einfach vergessen kann. Unsere Kinder und Enkel sollen die Wahrheit kennen: über den Krieg, über den Holocaust und darüber, warum und wie damals Eltern ihre Kinder in Sicherheit brachten. In Deutschland wie in der Sowjetunion und in vielen anderen Ländern. Davon müssen wir erzählen und dürfen das Feld nicht jenen überlassen, die in unseren Tagen die Geschichte in ihrem Sinne zu manipulieren versuchen. Beim Lesen dieser wahren Geschichte über die Familie Levy und die bewundernswerte Aktion zur Rettung jüdischer Kinder werden viele von uns auch an ihre eigenen Familien denken, an ihre Vergangenheit, ihre Zukunft. Und sicherlich wünschen, dass eine Situation, wie sie 1938/39 in Deutschland eintrat, nie mehr wiederkehrt. Nirgendwo und nirgendwann.
Übersetzung: Stephan Niedermeier
[1] Richard Gauch, Torsten Schleip: Er war doch nur ein neunjähriger Junge: Hans Richard Levy. Kindertransporte nach England 1938/1939. Leipzig: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, 2010. ISBN 978-3-89819-391. Und Рихард Гаух, Торстен Шлайп. Тогда ему было только девять лет: Ганс Рихард Леви. Акция спасения 1938-1939 гг. Вывоз детей в Великобританию: Фонд Розы Люксембург, Саксония, Лейпциг, 2011. ISBN 978-3-89819-391-7 (Перевод с немецкого языка Ольги Косенюк и Светланы Волжской). Übersetzung: Olga Koseniuk und Svetlana Voljskaia.