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Читающий Лейпциг

„Ich reduziere die Geschichte auf den Menschen...“ Swetlana Alexijewitsch in Leipzig

Автор: Svetlana Voljskaia
Источник: Raduga-NTE
Добавлено: 2013-10-23 18:49:58

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Am 15. Oktober war die Preisträgerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2013, Swetlana Alexijewitsch, zu Gast in Leipzig. Im dicht besetzen Festsaal des Alten Rathauses fanden Autorengespräch und Lesung mit der weißrussischen Schriftstellerin statt. Unter dem zahlreich erschienen interessierten Zuhörern war auch Leipzigs Oberbürgermeister Burghard Jung.

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Swetlana Alexijewitsch in Leipzig, 15.10.2013. Foto Antonia Krebs
Swetlana Alexijewitsch in Leipzig

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gilt als einer der renommiertesten Kulturpreise in der Bundesrepublik. Es ist nicht die erste Auszeichnung mit der die Autorin geehrt worden ist. Sie erhielt u.a. bereits den Triumph-Preis, den Remarque-Friedenspreis und den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In diesem Jahr galt die Weißrussin als ernsthafte Anwärterin auf den Literaturnobelpreis. Auch wenn er letztlich einer anderen Autorin zugesprochen wurde, besteht Swetlana Alexijewitschs Verdienst darin, dass der weißrussischen Literatur der Durchbruch in die europäische Literatur gelungen ist, wie Wladimir Nekljajew konstatiert (naviny.by).

Vor einem gespannt lauschenden Publikum spricht Swetlana Alexijewitsch über ihr Leben, ihre Bücher, den Friedenspreis und ihr neuestes Werk „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“, das auch die deutsche Leserschaft ergriffen habe, wie das Internetportal DW berichtet.

Aufgewachsen ist die 1948 geborene Autorin in einem Dorf – als Tochter von zwei Lehrern und mit einer Reihe von Büchern. Ihre Kindheit war geprägt von zahlreichen Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg, von denen ihr nicht wenige in lebhafter Erinnerung geblieben sind.

So gibt sie eine sehr eindrückliche Geschichte wieder, wie sich während des Kriegs das ganze Dorf vor den Einmarschierenden versteckte. Sie liefen durch den Sumpf, da dort ihre Spuren nicht zu verfolgen waren. Unter ihnen war eine Frau mit einem Neugeboren, das vor Hunger plötzlich weinte. Da sie selbst hungerte und keine Milch zum Stillen hatte, schrie das Kind weiter. Als die Feinde näher kamen, sah sie keinen anderen Ausweg und ertränkte ihr eigenes Baby, um die anderen Dorfbewohner zu retten.

„Meine Kindheit“, so die Autorin, „ setzt sich aus solchen Erzählungen zusammen. Der Krieg hat mich in durch mündliche Überlieferungen ergriffen, nicht durch die Bücher, in denen die Ereignisse als Heldengeschichten dargestellt sind. Bücher und mündliche Erzählungen, das ist ein Unterschied.“

Swetlana Alexijewitsch studierte in Minsk Journalistik und arbeitete anschließend für verschiedene lokale Zeitungen. Ihren Stil des dokumentarischen Romans in Stimmen entwickelte sie während ihrer Studenten-Zeit. Sie suchte nach einem Genre, das dem Sehen der Welt, der Beschaffenheit des Auges, der Ohren gerecht war.

Die gelernte Journalistin gesteht, dass sie bei ihrer Arbeit in vielen Punkten vom klassischen Journalismus abweicht. Bei ihren Interviews gehe viel Zeit dafür drauf, ihre Gesprächspartner von dem Banalen zu befreien. Das heißt sie dazu zu bringen, nicht über Nebensächliches oder in vorgefertigten Phrasen zu sprechen, sondern auf eine neue ungewohnte Art. In jedem ihrer Bücher lässt sich eine Polyphonie an Stimmen vernehmen und Minimum an auktorialen Kommentaren.

Ihr Debüt-Roman „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (1983) kam 1985 heraus, zu Beginn der Perestroika. Mit diesem, ihrem ersten und vielleicht auch besten Roman, war es schwer Anerkennung zu finden: Die Kritik in der Heimat war harsch. Möglicherweise auch deshalb, weil ihr Werk aus nur einer einzigen, wenngleich auch nicht unwichtigen, Perspektive geschrieben ist: zum ersten Mal wurde der Krieg aus den Augen der Frauen nachgezeichnet.

In „Zinkjungen“, ebenfalls 1985, das sich während der Perestroika großer Popularität erfreute, geht es um den Sowjetischen Afghanistankrieg.

In „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ 1997, das damals auch große Resonanz fand, um die Atomkatastrophe, die unzählige Menschen betraf, so auch die Familie der Autorin selbst.

In Russland ist in der Presse über Swetlana Alexijewitsch und ihre Friedenspreis-Auszeichnung teils trocken zu lesen: „Der Teil der russischen Kultur, der den Westen interessiert, ist für Russland unbedeutend.“ (Aljena Solnzeva, Moskowskije Nowosti vom 11.10.2013) Oder ganz und gar negativ: „Dem heutigen Russen, im Besonderen dem internationalen Leser, sagt der Name nichts. Überhaupt lebt die Schriftstellerin seit langem in Europa und kritisiert das Regime Alexander Lukaschenkos aus sicherer Entfernung.“ (www.apn-spb.ru).

Tatsächlich lebt Swetlana Alexijewitsch bereits seit einem Jahr wieder in Weißrussland. Die Heimat verließ sie in den 90er Jahren – als Zeichen des Protestes gegen die Diktatur. „Wir waren damals Romantiker“, erzählt sie, „glaubten an die Ideen Gorbatschows und deren baldigen Sieg. In Deutschland dachte man übrigens damals genauso. Ich erinnere mich, wie wir kurz nach dem Mauerfall in Berlin, als man uns Russisch sprechen hörte, auf der Straße geküsst und umarmt wurden.“

Nicht verwunderlich, dass die Deutschen Swetlana Alexijewitsch sehr schätzen. In Leipzig war das deutlich zu spüren. Jedoch ist es für sie unabdingbar, die Sprache der Menschen unmittelbar zu hören, ganz direkt die Geschehnisse im Land mitzuerleben. Aus diesem Grund ist sie nach Belarus zurückgekehrt.

Für die offiziellen Strukturen existiere sie dort allerdings nicht, gesteht die Autorin: „Ich trete nirgends auf, man lädt mich weder ins Radio noch ins Fernsehen ein und für meine Bücher, die bereits in Weißrussische übersetzt worden sind, finde ich keinen Herausgeber. Dafür erschien ihr neuestes Buch "Secondhand-Zeit“ Mitte September 2013 gleichzeitig in Russland (im Moskauer Verlag „Время“), Schweden und Deutschland (im Hanser-Verlag[1]). Die deutsche Leserschaft hat es mit großem Interesse aufgenommen.

Wie in allen Werken Alexijewitsch ist es eine Monolog-Sammlung einiger Dutzend Menschen: „Wir verabschieden uns von der Sowjetzeit. Von jenem unseren Leben. Ich versuche ehrlich, alle Beteiligten des sozialistischen Dramas zu Wort kommen zu lassen....“, schreibt die Autorin.

Nach Meinung von Swetlana Alexijewitsch ist die sowjetische Vergangenheit noch unzureichend analysiert worden; der Reflexionsprozess habe noch nicht eingesetzt. Den einst von den ausgedienten Ideen der Vergangenheit besetzten Platz versuche man nun mit Religion oder Nationalismus zu füllen. Doch ein Teil des Volkes beteilige sich an dem Prozess. Die Liberalen schweigen und die einfachen Leute sehnen sich nach Ordnung und einer starken Hand. Den gewöhnlichen homo soveticus vereinige jetzt nur noch ein Gedanke: der des materiellen Wohlstandes.


„Das Wichtigste sei es“, resümiert sie, „ungeachtet der Umstände Mensch zu bleiben!“ Das Publikum im Saal spendet diesen Worten begeisterten Beifall. Weiter verkündet sie – und man weiß nicht genau, ob es scherzhaft gemeint ist – ihren nächsten Roman gedenke sie über die Liebe zu schreiben.


Übersetzung: Antonia Krebs


Fotos: Antonia Krebs




  [1]  «Secondhand-Zeit. Leben auf Trümmern des Sozialismus». Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, München 2013 ISBN-10: 3446241507, ISBN-13: 9783446241503


Источник: Raduga-NTE



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