Äûì Îòå÷åñòâà - Òðèëëåð î Ìàíäåëüøòàìå

Ein Thriller über Mandelstam

Ëèòåðàòóðíîå êàôå: http://litkafe.de
Àâòîð: Svetlana Voljskaia
Äîáàâëåíî: 2013-08-23 01:30:00
[Âåðñèÿ äëÿ ïå÷àòè]

Im Zentrum von Roman Robert Littells „Das Stalin-Epigramm“ (Robert Littell “The Stalin Epigramm”. 2009) steht die Geschichte der Entstehung des Berühmten „Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr…“ von Ossip Mandelstam.

Pic
Nadeschda Mandelstam lechaim.ru
Nadeschda Mandelstam

Wie ist das besondere Interesse des amerikanischen Autors an Geschichte und Kultur Russlands zu erklären? Darunter verbirgt sich nicht nur das Allgemeinmenschliche, denn Robert Littell hat auch seine persönliche Gründe: das sind russische oder genauer gesagt polnisch-jüdische Wurzeln seiner Familie. Gegen Ende des XIX Jahrhunderts floh die Familie Litski (so war wahrscheinlich die Schreibweise des Namens) vor jüdischen Pogromen nach Amerika. Jedoch hat die Familie nie aufgehört, sich für die russische Heimat zu interessieren.

Robert Littell ist 1935 in Brooklyn geboren. Sein spannendes Berufsleben war zum großen Teil eng mit Russland verbunden. Hier arbeitete er eine Zeit lang als Korrespondent einer Neujorker Zeitung. 1979 besuchte Littell in Moskau die Witwe von Ossip Mandelstam, Nadeshda. Damals wurde die Idee vom Roman von Stalin und Mandelstam geboren.

Von Werner Löcher-Lawrence brillant ins Deutsche übertragen, wurde dieser Roman in Deutschland zum Bestseller. Auch von der Kritik ist er hoch bewertet worden: „Robert Littell … hat sich nun der Lebensgeschichte Ossip Mandelstams angenommen und daraus einen berührenden, hochspannenden und vielstimmig-raffiniert komponierten Roman gemacht. (…) Mit Stalin-Epigramm ist Robert Littell ein Buch gelungen, das man schnell lesen kann, aber sicherlich lange nicht vergessen wird“. (Dietmar Jacobsen 07.01.2010. poetenladen.de. Angesehen am 29.05.2010)

„Dieses Buch, dessen Stoff er (Robert Littell) bereits seit 30 Jahren mit sich herumträgt und in Ansätzen in seinen zahlreichen Agententhrillern verarbeitet hat, ist nichts Geringeres als sein Lebenswerk, denn er verbindet darin sein jahrzehntelang gesammeltes Wissen zur russischen literarischen Avantgarde mit seinem außerordentlichen Geschick, packende Geschichten zu erzählen. Littells Roman ist nicht, wie so oft, ein Thriller mit politischer Aussage, sondern vielmehr das Dokument einer Huldigung, eine Ode an die Sprache und Dichtung und die Kraft, die im Wort verborgen liegt“.
(Thomas Hummitzsch, 20. Dezember 2009. Die Kraft der Worte. textem.de. Angesehen am 30.05.2010).

Die Meinungen der kleinen Anzahl russischer Leser, die den Roman auf Englisch oder in deutscher Übersetzung lesen konnten, klingen im Gegensatz zu den oben aufgeführten relativ skeptisch. Man kann nachvollziehen, warum. Der ausländische Autor wagte Mandelstam als einen lebendigen Menschen mit Stärken und Schwächen zu zeigen. In Russland gibt es noch kein ähnliches Buch. Das geheimnisvolle Schicksal des Dichters (er wurde in einer orthodoxen jüdischen Familie erzogen und wollte in seiner Jugend Rabbi werden), widersprüchliche Informationen über ihn lassen sich nicht zu einem eindeutigen Bild zusammenfügen. Sogar Oleg Lekmanov, Autor vom kürzlich erschienen Buch über Mandelstam aus der „Das Leben der berühmten Menschen“- Serie, zählt in seinem Einband nur trocken und betont distanziert alle verfügbaren Meinungen zur Persönlichkeit Mandelstams auf.

Pic

Aber ist das Werkkonzept des amerikanischen Autors, der heute in Frankreich lebt, überzeugend genug? Oleg Jurjev (Frankfurt am Main) meint dazu, dass das Buch von Littell nur ein Zeugnis davon sei, „was in den Köpfen des Westens nach vier Jahrzehnten von 'Mandelstamisierung' durch die Memoiren von Nadeschda Mandelstam übrig geblieben ist“ („Sogar Benedikt Livschitz“. Mai 2010, newkamera.de). An einer weiteren Stelle bezeichnet er den Roman als „Thriller von Mandelstam“.

Wovon zeugen diese Aussagen? Von zumindest zwei Fakten. Erstens: die russische Tradition, von den großen Schriftstellern und ähnlichen Menschen ausschließlich im Genre der Heiligenviten zu schreiben, lebt noch (Vgl. Zeitschrift „Vlast´“ ¹3 (857) vom 25.01.2010). Zweitens: rufen die Memoiren von Nadeschda Mandelstam widersprüchliche Meinungen hervor. Jedoch erschien ihre Prosa noch vor den „Offenbarungen“ von A. Solschenitsyn und stellte den ersten Versuch dar, die Wahrheit von Stalins grausamen Zeiten zu erzählen. Außerdem verwendet Littell in seinem Roman diverse andere Quellen.

Auch dieser Autor hat nicht vor, eine vollständige Biographie von Ossip Mandestam zu liefern. Ein großer und wichtiger Teil des Lebens und Werks Mandelstams vor 1934 bleibt außerhalb des Romanrahmens. Im Zentrum stehen zwei Gedichte an Stalin, die Mandelstam ins Verderben stürzten: das Epigramm und die Ode. Robert Littell beschreibt die Ereignisse einmal aus der Perspektive des Dichters selbst, einmal aus der Perspektive seiner Frau, seiner Freunde (Anna Achmatowa und Boris Pasternak) und anderer Protagonisten: realen und fiktiven. All das sind Menschen, die zufällig oder gesetzmäßig in die Gegebenheiten des Lebens von Ossip Mandelstam involviert wurden. Es ist, als würde man in die Fenster verschiedener Wohnungen, die in einem Haus liegen, hineinschauen. Autor verfolgt das Entstehen der Idee der verrückten romantischen Tat Mandelstams, der den mächtigen Diktator herausforderte. In diesem Sinne ist die Textstelle, die das Gespräch beschreibt, das sich um Shakespeares „Hamlet“ dreht und zwischen Mandelstam, Achmatowa und Pasternak stattfindet, sehr relevant.

Vier. Anna Andrejewna. Donnerstag, 12 April 1934

(Pasternak teilt sein Vorhaben mit, „Hamlet“ ins Russische zu übersetzten)
„Kehren wir zu Hamlet zurück“, schlug ich (Anna Achmatowa) vor. „Borisik, erklären Sie uns, warum Sie Jahr für Jahr darauf zurück kommen?“
Ossip verstand Borisiks Faszination auch nicht ganz. „Tolsloi hat den Nagel auf den Kopf getroffen“…. Es ist eine Geschichte von jemanden, der unfähig ist, mit seiner Feigheit umzugehen, und deshalb in den Wahnsinn flieht“.
„Nein, nein, so lese ich das absolut nicht“, rief Borisik. „Hamlet ist nicht wahnsinnig. Er täuscht den Wahnsinn nur vor, um sein Versagen zu rechtfertigen, gegen seine innerste Natur zu handeln“….
„Damit fügt sich alles zusammen!“, erklärte Ossip. „Hamlet täuscht Wahnsinn vor, um seine Unfähigkeit zu handeln zu rechtfertigen. Ich täusche Vernunft vor – weil von keinem vernünftigen Menschen erwartet werden kann zu tun, was ich tun muss.“
… Borisik, der einen sechsten Sinn für geistige Dinge hatte, sagte sehê leise: „Bisher hat er es hinausgeschoben, seinem Gebirgler entgegen zu treten. Was er seinem Gefühl nach tun muss, geht gegen seine innere Natur, soweit sich Dichter ihre Hände nicht mit Politik beschmutzen.“
(S 75).

In diesem Fall folgt Littell Nadeschda Mandelstams „Memoiren“ und den „Albumsblättern“ von Anna Achmatowa und stattet Mandelstam im Einklang mit den russischen traditionellen Vorstellungen mit besonderen Eigenschaften aus: er ist ein Prophet, der besondere Mission hat: „mit dem Wort die Herzen der Menschen zu brennen“. Gleichzeitig lässt der Autor auch andere Meinungen zu: Boris Pasternak vergleicht das Epigramm mit einem Selbstmordversuch und nennt die Tat Mandelstams völlig sinnlos.

Sechs. Nadeschda Jakowlewna. Montag, 7. Mai 1934

(Nadeschda und Zinaida befinden sich im Schlafzimmer der Wohnung Mandelstams im Herzen - Haus. Sie liebkosen sich, führen Gespräche und beobachten durch die geöffnete Zimmertür den auf und ab im Nebenzimmer läuft und sein Epigramm auf Stalin komponiert).
„Ich glaube, ich hab`s“, rief er.
Zinaida dachte, Mandelstam hätte endlich den vielen Freunden nachgegeben, die ihn beschworen, eine Ode zu Ehren Stalins zu schreiben. Sie schien erleichtert. „Ich weiß, dass es schwer gewesen sein muss“, sagte sie, „aber ich denke, dass du sehr weise warst, es zu tun.“
Ich schob einen Arm unter ihrem Ellbogen durch. „Du verstehst nicht, mein Liebes. Ossja hat bestimmt ein sehr offenes Gedicht geschaffen, eines, das nicht um den heißen Brei herumredet. Du und ich, wir werden seine ersten Leser sein“.
Zinaida sah mich verwirrt an. „Aber es gibt nur eine Art Gedicht, die man schreiben kann, wenn es um Stalin geht.“


Er (Mandelstam) schloss die Augen, ließ uns seine blasse Kehle sehen, hob die Hand … über den Kopf und begann zu rezitieren.


„Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr,
Wir reden, dass und auf zehn Schritt keiner hört,

Nur der Gebirgler im Kreml ist noch zu vernehmen.
Der Mörder und Bauerschlächter.

Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,
Und Zentnergewichte wiegts Wort, das er fällt,

Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben,
Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.

Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,
Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,

Die pfeifen, miauen und jammern.
Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.

Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:
In den Leib, in die Stirn, in die Augen, - ins Grab.

Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten –
Und breit schwillt die Brust des Osseten.“ (S 111)


(Anmerkung: Littell zitiert erste Fassung des Epigramms. In der späteren Variante relativiert Mandelstam die erste Strophe, nimmt die Epitheta „Mörder“ und „Bauerschlächter“ heraus. In der neuen Variante heißt es: Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, –/ Betrifft's den Gebirgler im Kreml.)

Diese Stelle lässt vermuten, dass der Autor die Memoiren von Emma Herstein kannte, die u. a. brisante Details aus dem Familienleben von Eheleuten Mandelstam preisgibt. Zinaida ist eine enge gemeinsame Freundin und Geliebte der Beiden (genauso wie Olga Waksel, Maria Petrowych, Lilja Popova und andere). Im Text des Romans wird diese fiktive Figur anstelle von Maria Petrowych zum Adressat des „besten Liebesgedichtes des XX Jahrhunderts“ (so Achmatowa), „Masterin der schuldbewussten Blicke“.

Aus der Biographie der realen Frau entnahm der Autor einige Fakten: sie war mit einem Agronom verheiratet und besaß die einzige handschriftliche Aufzeichnung vom Stalin - Epigramm. Im Roman verrät Zaitsewa-Antonowa den Dichter, indem sie dieses Manuskript an Tschekisten weitergibt. Man weiß nicht, ob Maria Petrowych irgendetwas in der Art getan hätte. In diesem Fall bedient sich Littell einer gängigen Version.

Wenn ein Mandelstam gegen Stalin gerichtete Gedichte komponiert und sie seinen Freunden vorliest, wünscht er sich einen Heldentod. Denn damals wurde man auch für weniger dreiste Vergehen erschossen! Der Autor verbirgt nicht, dass das Epigramm in einem Zustand der äußersten Nervosität geschrieben wurde, und da spielte die Frau von Mandelstam eine wichtige Rolle. Dies schreibt Emma Herstein dazu: „Nadja bildete in sich das Ideal einer römischen Ehefrau heraus, die dazu bereit war, zusammen mit dem Man mit dem Tod zu spielen. Noch blieb sie an der Grenze zwischen der Liebesekstase und der eines Patrioten… Wie könnte ich je vergessen, wie krankhaft - aufgeregt sie war, als sie in mein Zimmer hineinstürmte mit der Nachricht vom „rebellischen“ Gedicht „Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr“..?“

Zwischen dem großen mächtigen Dichter und dem kleinen schwachen Menschen - Mandelstam bestand ein großer Unterschied – dem Romanautor ist sich dessen bewusst. Als Mandelstam im Stalins Verlies zum ersten Man den Erpressungen, Erniedrigungen und Einschüchterungsversuchen begegnete, hielt er nicht stand: beim allerersten Verhör nannte er die Namen aller, die sein Epigramm gehört haben. Später musste er diesen Moment der Schwäche sehr bedauern. Der Autor macht den Leser mit Stalins Befehl bekannt, der das Schicksal vom Mandelstam entschieden hat: „isolieren und schonen“ und man fragt sich: welche Gründe hatte der aus dem Gefängnis entlassene, aus Moskau verbannte Dichter für einen Suizidversuch?

In der Tat, vielleicht war das Ziel des „Führers der Völker“ doch den Dichter zu vernichten, aber nicht körperlich, sondern psychisch: diesem schwachen Menschen seine Würde zu nehmen und den Rest seines Lebens zur Qual zu machen? Am Ende der Woronescher Verbannung schreibt der Dichter die von Stalin lang ersehnte Ode. Sie wurde im zweiten „Woronescher Heft“ veröffentlicht. Hier ist ein Ausschnitt aus diesem Text:


Ich will nicht Stalin sagen, eher – Dschugaschwili…
Künstler, schone den Kämpfer und beschütze ihn…
Er beugt von der Tribüne wie vom Berge sich
Zu Hügeln: Köpfen…
Er lächelt mit dem Lächeln eines Schnitters…“ (Das Stalin Epigramm, S. 318)


Nadeschda Mandelstam nennt die Ode später „eine Vergewaltigung“. Nach ihr, war dieses Gedicht nur ein Mittel, um die Loyalität der Macht gegenüber zu zeigen. Sie tut so, als würde sie versuchen, sich für sie sogar zu entschuldigen: „Viele rieten mir, die Ode zu verschweigen, als ob es sie überhaupt nie gebe. Aber ich tue das nicht, denn so wäre die Wahrhaft nicht vollständig: ein Doppelleben ist ein absoluter Fakt unserer Epoche und keiner konnte es vermeiden. Jedoch dichteten Andere ihre Oden in ihrer Wohnungen und Datschen und bekamen Auszeichnungen dafür. O.M. machte es, als sein Hals in der Schlinge steckte… Achmatowa – als die Schlinge um den Hals ihres Sohnes festgezogen wurde. Wer verurteilt sie für diese Gedichte?!“

In seinem Roman überlässt es Robert Littell Stalin, die Ode zu analysieren. Stalin meldet sich zwei oder drei Mal höchstpersönlich auf den Romanseiten. Der Autor nimmt in den Text ein brisantes dokumentarisch belegtes Gespräch zwischen Stalin und Pasternak auf, in dem Stalin sicher gehen wollte, dass Mandelstam ein „Meister“ ist, sowie die unwahrscheinlichen Begegnungen des Dichters und des Führers im Kreml.

Neunzehn. Wahrscheinlich Ossip Emiljewitsch. Mitte, Ende September 1938

(Mandelstam wird in den Kreml zu Stalin geführt. Das Gespräch kreist um die „Ode“).

Ich hörte ihn sagen: Sie enttäuschen mich, Mandelstam. Ich habe Ihre sogenannte Ode gelesen. Sie ist weit schlimmer als das erste Stück Dreck, dass Sie über mich geschrieben haben. Wofür halten Sie mich? Für einen ungebildeten Bauer? Sie hassen Stalin immer noch, Sie können sich nicht dazu bringen, ihn zu feiern. Sie ziehen ihn ein zweites Mal durch den Schmutz…. Sie essen nichts?, fragte er. Ich habe den Appetit verloren, antwortete ich. … Das sollten Sie auch!... Irgendwas sollte sich daraus lernen lassen, fuhr er fort. Ich wollte ein Gedicht von ihm, aber er wollte keins schreiben. Jetzt hat er eins geschrieben, aber es nützt mir nichts, weil er nicht mehr der Dichter ist, der er war… Auf den ersten Anblick erweckt diese neue Oda den Anschein, als huldigte sie Stalin, tut aber unterschwellig genau das Gegenteil… Was soll das bedeuten: durch Stalins Augen teilt sich schon der Berg? Das kann nur als Echo der heimtückischen Bezugnahme auf den Gebirgler im Kreml in Ihrem ersten Gedicht verstanden werden. Und das hier: Ich will nicht Stalin sagen, eher – Dschugaschwili. Warum Sind Sie unfähig, den Namen Stalin über die Lippen zu bringen, Mandelstam? Warum Dschugaschwili, er sei denn, Sie wollen die Aufmerksamkeit auf Stalins nicht russische Herkunft lenken? Wenn kümmert er, dass ich georgische Wurzeln habe? Napoleon war Korse, kein Franzose. Hitler ist Österreicher, kein Deutscher. Selbst Churchill, dieser Sack der Ihnen die Kopeken aus der Tasche klaut, wenn Sie nicht genau aufpassen, ist halb Amerikaner. … Was heiß das: Künstler, so hilf ihm doch, denn ganz mit dir ist Er. Wollen Sie damit andeuten, dass wir in einem Polizeistaat leben, in dem Stalin und die Tschekisten Ihnen vierundzwanzig Stunden am Tag über die Schulter sehen?... Und das hier, Himmel noch mal. Wie erklären Sie mir das: Er lächelt mit dem Lächeln eines Schnitters. Denken Sie auch nur den Bruchteil einer Sekunde, dass einer, der das hört, nicht gleich den Bezug auf Gevatter Tod, den Sensenmann, versteht? Ha! Und hier! Das ist mir beim ersten Mal nicht aufgefallen, als ich Ihr Stück Dreck gelesen habe. Er beugt von der Tribüne wie vom Berge sich – da kommen Sie schon wieder mit Ihrem verfluchten Gebirge – zu Hügeln, Köpfen. Was bedeutet das, Mandelstam, dieses Bild, das Sie da entwerfen von Stalin? Das kommt in der letzten Strophe noch mal. In weite Ferne gehen Hügel: Menschenköpfe… Ich begreife jetzt, dass ich Sie gleich beim ersten Mal hätte erschießen lassen sollen, als Sie mit so was kamen. Aus reiner Herzensgüte habe ich Ihnen drei Jahre gegeben. … Und wie danken Sie mir das? Mit Müll! Mit Verrat! Mit Bezügen auf Menschenköpfe in der Ferne, die da wohl rollen sollen! Da hätten Sie gleich ein Schild Richtung Osten aufstellen können, auf dem steht: Hier geht´s ins Stalins Gulag! Mein Gott, was für eine Unverschämtheit!... Sie haben mit dem Feuer gespielt, Mandelstam. Sie müssen verbrannt werden. (S 318 ff)

Eine ähnliche Textanalyse der Ode konnte der Autor im bekannten Buch „Dialoge mit Josef Brodski“ von Solomon Wolkow gelesen haben: „Nach der 'Ode', wäre ich Stalin, hätte ich Mandelstam gleich erstochen…Meiner Meinung nach, ist „Ode“ das kolossalste Gedicht, das Mandelstam je geschrieben hat. Mehr sogar. Womöglich ist es das bedeutende Ereignis in der gesamten russischen Literatur des XX Jahrhunderts… Ode und Satire zugleich“. (artofwar.ru. Angesehen am 27.07.2010).

Man weiß nicht, ob Stalin die an ihn gerichtete Ode überhaupt gelesen hat. Das lebendige und originalgetreue Bildnis des großen sowjetischen Herrschers ist einer der künstlerischen Erfolge Robert Littells. Nicht klar ist, aus welchen Gründen Ossip Mandelstam das zweite Mal verhaftet wurde. Im Roman stirbt er im sibirischen Lager auf den Armen Fikret Schotmans, seines ehemaligen Zellennachbarn im Gefängnis Lubjynka.

Schotman ist eine fiktive Figur, die, genau wie Zajtsewa-Antonowa, Eigenschaften vieler realen Persönlichkeiten in sich vereint (leider sind sein Vorname „Fikret“ und „armenischer“ Familienname nicht glücklich gewählt worden). Diese Figur hat Ähnlichkeiten mit den Protagonisten aus den Gefängniserzählungen des legendären Warlam Šalamow, mit dessen Werk sich Robert Littell bekannt machen dürfte.

Robert Littell kombiniert das Historische und das Phantastische in seinem Roman. Gewiss, wohnt diese Eigenschaft dem Genre inne; in diesem Fall jedoch ist dieses Zusammenleben besonders harmonisch. Dem Autor ist es gelungen, nicht nur die historische Vergangenheit festzuhalten, sondern auch die schreckliche Atmosphäre der Zeit dem Leser nahe zu bringen. Die erstickende Atmosphäre der Epoche, die den großen russischen Dichter hinrichtete und mit ihm – Abertausende anderer unschuldiger Menschen.

Das Buch von Robert Littell ist spannend, liest sich leicht und schnell, aber im Unterschied zu vielen anderen literarischen Thrillern, vergisst man es nicht, dank seinen prägnanten Charakteren und dramatischen Ereignissen der stalinschen Epoche. Die Frage des Verhältnisses zwischen dem Dichter und der Macht wird am Beispiel des Lebens und Werks von Ossip Mandelstam untersucht. Ob dieses Buch je es zur breiten russischen Leserschaft findet? Der Autor ist es sich nicht sicher: „Ich weiß noch nicht, ob das Buch auf Russisch veröffentlicht wird. Wenn nicht, heißt es, dass der richtige Zeitpunkt für solche Lektüre noch nicht gekommen ist“ (Aus dem Vortrag: „Das Symbol des Mütterchen-Russlands in der Weltkultur“ (sapronau.livejournal.com. Angesehen am 20.07.2010).

Robert Littell: Das Stalin-Epigramm. Aus dem Amerikanischen von Werner- Löcher Lawrence. Arche-Verlag. Zürich 2009. 400 Seiten. ISBN: 37160262 20.

Übersetzung: Olga Koseniuk




Ëèòåðàòóðíîå êàôå