Ich habe lange versucht, mich uber Wasser zu halten und meinen Verwandten zugeredet: „Wir haben Hande, also gehen wir nicht unter!“
Margarita Staroselskaja in ihrer Wohnung in Deutschland. Foto E. Berson
Margarita Staroselskaja
— Erzählen Sie bitte von sich und Ihrer Familie! — Ich bin am 29. Juli 1929 in Moskau geboren worden. Mein Vater hieß Lasar Wainer. Er war jüdischer Nationalität und von Beruf Bildhauer. Außerdem kämpfte er im Bürgerkrieg und trat 1918 in die Kommunistische Partei ein[1] . Er arbeitete im Narkompros (Narodnyj komitet prosweschtschenija - Volkskomitee für Aufklärung und Bildung) und hat an zahlreichen Ausstellungen teilgenommen. Mein Vater war mit vielen interessanten Menschen bekannt. Er kannte beispielsweise Majakowski persönlich. Um sich künstlerisch weiterzuentwickeln, war mein Vater mehrmals in Paris. Meine Mutter hat ihre Kindheit und Jugend in Lettland verbracht. Ihre Muttersprache war Deutsch. Nach Abschluss des Gymnasiums fuhr sie zum Studium nach St. Petersburg. Als Jüdin hätte sie eigentlich nicht in der Hauptstadt leben dürfen. Ein russischer General, dessen Kinder sie in Deutsch unterrichtete, nahm sie jedoch bei sich auf. Nach der Revolution schloss Mutter das Moskauer Pädagogische Institut ab. Hier, in Moskau, lernte sie auch meinen Vater kennen. Unsere Familie wohnte direkt im Zentrum der Stadt gegenüber dem Geschäft Jelisejewskij in einem elfstöckigen Haus[2] . Es war in jenen Jahren das höchste Haus Moskaus und von überall her zu sehen. Auf dem flachen und gefliesten Dach des Hauses, das ein hoher, schöner Gitterzaun umgab, befand sich vor der Revolution ein Restaurant. Zu sowjetischen Zeiten fuhren die Kinder (auch ich) auf dem Dach Fahrrad. Ich kann mich noch gut an die mit Marmor verkleidete Vorhalle und die großen Treppen, die einst mit Teppichen ausgelegt waren, erinnern.
Unvergleichlich schön waren auch die Spiegel in den riesigen Fahrstühlen. Das Haus war wie ein Hotel eingerichtet und bestand aus individuellen Wohnungen mit allem Komfort. Hier wohnten hauptsächlich jene Kommunisten, die aktiv in die Oktoberrevolution involviert gewesen waren. Die alten Bolschewiki verfügten über staatliche Datschen, erhielten sogenannte „Rationen“ - preiswerte Lebensmittelpakete (die übrige Bevölkerung hungerte damals). Einige von ihnen meinten es wirklich ehrlich, sie glaubten aufrichtig an die hehren Ideale der Revolution. Kaum einer von ihnen ist eines natürlichen Todes gestorben. Viele wurden erschossen oder kamen in den Lagern ums Leben. In jener schrecklichen Zeit überlebten vor allem die „Stukatschi“ (inoffizielle Zuträger), die ihre Kameraden anschwärzten. So war das System nun einmal. In demselben Haus wohnte übrigens auf der siebenten Etage der in den 30er Jahren berühmte Generalstaatsanwalt Wyschinskij, der tausende zerstörter Leben auf dem Gewissen hatte. Meine Familie lebte sehr bescheiden (keine Datsche, kein Auto). Für Kommunisten im Alter meines Vaters galt im Grunde ein anderes „Lebensmaximus“. Vater starb 1933 an Typhus. Wäre er am Leben geblieben, hätte er, wie ich meine, sicher das Schicksal vieler Bewohner unseres Hauses geteilt.— Wie erging es Ihren anderen Verwandten?
Eine Arbeit M. Staroselskajas
Eine Arbeit M. Staroselskajas
— Die Familie meines Vaters begrüßte die Revolution und glaubt aufrichtig an das von ihr in Aussicht gestellte Glück. Die leibliche Schwester meines Vaters arbeitete nach der Revolution in Lenins Sekretariat. Sie heiratete den Deutschen Tretler, der jedoch russischer Staatsbürger war. Die Regierung ernannte ihn sogar zum sowjetischen Diplomaten in Berlin. Meine Tante und er lebten zehn Jahre in Berlin, träumten aber wie Tschechows Schwestern immer von Moskau. Kurz vor dem Krieg wurden sie unerwartet aus Berlin nach Moskau abberufen. Die Wohnung, in der sie vor ihrer Abreise nach Berlin gewohnt hatten, war an andere vergeben worden. Man hat sie deshalb zunächst in dem wunderschönen Hotel „Metropol“ untergebracht. Sie waren damals sehr glücklich und warteten ungeduldig auf die Ankunft ihres Gepäck aus Deutschland. Doch sie sollten es nie in Empfang nehmen. Aus dem Hotel mussten sie schnell wieder ausziehen. Sie kamen in einem kleinen Zimmer unserer Wohnung unter. Und wenig später erschienen vier bewaffnete Tschekisten, stellten die Wohnung auf den Kopf und verhafteten Tretler. Die schrecklichen Bilder der Hausdurchsuchung werde ich nie vergessen, und auch nie den Blick meines Onkels, eines so guten, so klugen und übrigens schon älteren Menschen. Während dieser Nacht durfte er sich nicht ein einziges Mal hinsetzen… Wir haben ihn nie wiedergesehen. Meine Tante, bis dahin Musik- und Deutschlehrerin, musste sich eine Anstellung als einfache Fabrikarbeiterin suchen. Vielleicht hat sie deshalb überlebt. Als Tretler post mortem rehabilitiert worden war, erhielt sie als Kompensationsleistung eine kleine Geldsumme und ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung.— Wie haben Sie den Krieg und die Evakuierung überstanden? — Ich kann mich gut an den 22. Juni 1941 erinnern. Es war Sonntag, die Sonne schien. Ich bereitete mich auf mein Examen an der Kunstfachschule vor. Die vom Radio übertragene Erklärung über den Beginn des Krieges mit Deutschland traf mich buchstäblich wie der Blitz aus heiterem Himmel. Von diesem Tage an waren im Radio nicht mehr die fröhlichen Märsche zu hören, sondern Stimmen, die uns Angst machten. Nachts wurde auf den Dächern und in den Luftschutzkellern Wache gehalten. Jeden Tag zogen unsere lieben, achtzehnjährigen Jungen, die eben erst so richtig zu leben begonnen hatten, in den Krieg und kaum einer kehrte zurück. Ich hatte einen Bräutigam, der auch ums Leben kam. Trotzdem glaubten alle daran, dass wir bald siegen werden und dass unser Land stark und unbesiegbar ist.
Eine Arbeit M. Staroselskajas .
Eine Arbeit M. Staroselskajas
Die Stimmung änderte sich erst im Laufe des Krieges. Meine Mutter und ich wurden nach Baschkirien evakuiert, in die Stadt Birsk am Fluss Belaja. Wir fuhren in Viehwaggons nach Birsk und wurden bombardiert. Es war schrecklich, vor allem nachts. Die kleinen und auch die größeren Kinder hatten solche Angst, dass sie nicht einmal mehr weinen konnten. Wie sich zeigte, war Birsk eine kleine Provinzstadt. Wir wurden bei einer Birskerin einquartiert und wohnten mit ihr in einem Zimmer. Die Wirtin war darüber natürlich nicht gerade glücklich, aber sie ließ uns bei sich wohnen und schwieg. Alle litten unter dem Hunger. Im Sommer arbeiteten Mutter und ich in der Kollektivwirtschaft. Wir jäteten fleißig das Unkraut (anfangs die kleinen Keimlinge der Saat gleich mit). Wir wurden dafür nicht bezahlt, aber wir ließen den Kopf nicht hängen. Mutter hat nie geklagt. Sie sagte nur, dass es immer einen Ausweg gäbe. Die Stadt hatte ein Pädagogisches Institut. Ich begann am Lehrstuhl für Literatur zu studieren. Mutter unterrichtete dann dort Deutsch. Als der Krieg zu Ende ging, kehrten wir nach Moskau zurück.— Haben sie irgendwann Formen des Antisemitismus gespürt? — Vor dem Krieg nicht, jedenfalls habe ich damals nie darüber nachgedacht. Alle meine Bekannten waren nicht religiös, sie besuchten einander und glaubten an die lichte sowjetische Zukunft. In meine Schule gingen auch mehrere Kinder aus Spanien. Sie waren nach Russland gekommen, weil in Spanien der Faschismus gesiegt hatte. Und wir waren alle befreundet und wurden im Geiste des Internationalismus erzogen. Aber schon während der Evakuierung hörte ich in Birsk oft, wie die hiesigen Einwohner alle schlechten Menschen Schidy nannten. Dass wir Juden waren, hat man uns dann nach dem Krieg so richtig klargemacht, als Mutter wegen dem sogenannten Punkt Fünf (im Pass wurde unter Fünftens die „Nationalität“ eingetragen) entlassen wurde. Und plötzlich waren wir mittellos. Wieder mussten wir ums Überleben kämpfen und Mutter begann, privat Deutsch zu unterrichten.— Erzählen Sie bitte von Ihrer Arbeit und Ihrem Beruf!
Ilja Staroselskij : Umschlag eines Ausstellungskatalogs
Ilja Staroselskij
— Ich habe das Moskauer Institut für Dekoration und Angewandte Kunst im Fach Porzellan- und Keramikmalerei abgeschlossen. Ich fand das Studium sehr interessant, aber schon damals waren die unangenehmen Seiten meines Berufes nicht zu übersehen. Jeder wirklich eigene Gedanke wurde zum Formalismus erklärt und gnadenlos bekämpft. Einige unser wunderbaren Lehrer wurden wegen Formalismus entlassen. In der Kunst gaben ein pseudorussischer Stil und der Sozialistische Realismus den Ton an. Mir wurde bewusst, dass ich anders arbeiten wollte. Aber das Wie und Was blieb mir noch verschlossen. In den 50er Jahren habe ich meinen zukünftigen Mann, Ilja Staroselskij, kennengelernt. Er war älter als ich und öffnete mir die Augen für viele Dinge. Er hatte bei sich zu Hause eine wunderbare Bibliothek, eine ganze Sammlung von Büchern über Kunst. Seine Freunde brachten ihm Bücher aus Italien und Frankreich mit. Ihn umgab eine Gruppe interessanter Menschen verschiedener Berufe, und auch er selbst war vielseitig begabt. Er war ein wunderbarer Zeichner und Grafiker. Vor mir öffneten sich buchstäblich völlig neue Horizonte. Ich sah bemerkenswerte künstlerische Arbeiten, die leider nie irgendwo ausgestellt wurden, und wenn doch, dann nur für einen Abend. Ich habe damals viel nachgezeichnet und dabei künstlerische Erfahrung gesammelt. Ich bin sogar ins Baltikum gefahren, das damals für moderne Tendenzen in der Kunst „offener“ war. Anschließend habe ich im Kombinat für Angewandte Kunst und Dekoration gearbeitet, in der Abteilung Innenausstattung, in der das Interieur für Theater, Erholungsstätten und Verwaltungsgebäude entstand. Hier erlernte ich die Textilmalerei, die Herstellung von Gobelins. Ich wurde Mitglied der Union der Künstler und habe mit meinen Arbeiten an vielen Ausstellungen teilgenommen. Die Kunst war damals jedoch keine einfache Sache. Zwar wehte unter Chruschtschow ein „Lüftchen“ Freiheit, aber das eben auch nicht lange. Viele talentierte Künstler reisten aus. Sie wurden zu Feinden des Volkes erklärt und ihre Ausreise war mit großen Problemen und Erniedrigungen verbunden. Wir blieben zurück und verabschiedeten uns unter Tränen von ihnen, ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen. — Und Sie? Warum haben Sie sich zur Emigration entschlossen? — Im Unterschied zu meinen Kollegen hatte ich in beruflicher Hinsicht kaum Probleme. Die Malerei und Weberei erlaubten es mir, mich etwas vom Sozialistischen Realismus zu entfernen und in großzügigeren Darstellungsformen zu denken und zu arbeiten. Neben den Ausstellungen habe ich mich auch gesellschaftlich engagiert und leitete den Rat für Innenausstattung. Antisemitismus habe ich bei meiner Arbeit nicht gespürt. Mit der Perestrojka brachen jedoch harte Zeiten an. Die Union der Künstler zerfiel. Es wurde schwieriger, Aufträge zu bekommen. Die Inflation fraß meine nicht gerade großen Ersparnisse auf und allein mit der Rente kam man, wie sich schnell herausstellte, auch nicht weit.
Margarita Staroselskaja im Urlaub unterwegs in Deutschland.
Margarita Staroselskaja
Ich habe lange versucht, mich über Wasser zu halten und meinen Verwandten zugeredet: „Wir haben Hände, also gehen wir nicht unter!“ Aber dann kam der Tag, an dem ich nicht mehr wusste, wovon ich meine Werkstatt bezahlen sollte. Da ist mir klar geworden, dass ich in einem Land, in dem es keine Stabilität und keine Sicherheit gibt, nicht mehr leben kann. 1998 bin ich nach Deutschland ausgereist.— Wie kommen Sie in der neuen Heimat zurecht? — Ich empfinde hier eine geistige Nähe - Deutschland erinnert mich an die Heimat meiner Mutter. Die Menschen sind freundlich zu mir und die deutsche Sprache ist mir keineswegs fremd. Ich kann meine alltäglichen Angelegenheiten selbst erledigen und kommuniziere nicht nur mit meinen russischsprachigen Landsleuten, sondern auch mit den hiesigen Einwohnern. Wir besuchen einander. Ich bin mit vielen interessanten Leuten befreundet und fühle mich nicht alt. Und die Hauptsache ist doch, dass ich noch arbeiten kann. Meine Tochter, ebenfalls Künstlerin (Angewandte Kunst), lebt jetzt in Leipzig. Ich habe Urenkel. Meine Enkelin hat in Berlin das Kunstinstitut abgeschlossen und ist Grafikerin geworden. Sie setzt auf ihre Weise die Familientradition fort, allerdings entwickeln sich ihre Arbeiten in eine völlig andere Richtung. Meine Tochter und ich sind froh über die Erfolge meiner Enkelin. Vor einigen Jahren fand in Leipzig eine Ausstellung aller drei Künstlerinnen unserer Familie statt. Außerdem wurden einige Arbeiten meines verstorbenen Mannes gezeigt. Mit einem Wort alles ist wunderschön und erstaunlich. Ich muss sagen, dass ich dem Land, das mich an meinem Lebensabend aufgenommen hat, sehr dankbar bin.
April 2012 Übersetzung: Stephan Niedermeier
[1] Ich würde gern etwas über meinen Großvater väterlicherseits erzählen. Er war dagestanischer Jude und lebte im Aul. Er schnitzte Holz, gravierte Metall und kleidete sich wie alle Dagestaner: mit Burka (Filzumhang) und Papacha (hohe Pelzmütze). Ohne seinen fein gravierten Kindschal (Kosakendolch) ging er nie aus dem Haus. In den 20er Jahren kam er nach Moskau. Er erkannte schnell die Situation und trat im Alter von achtzig Jahren in die kommunistische Partei ein. Das war aber noch nicht alles. Er erklärte, dass er einst zur konspirativen Organisation Narodnaja Wolja gehört habe und am Attentat auf den Zaren beteiligt gewesen sei. Diese Nachricht sprach sich in Windeseile herum. Er wurde in den Kreml gefahren und man schrieb seine ausgedachte Biographie auf. Eines Tages entlarvte ihn dann doch V. Figner, die lautstark erklärte, ihr sei so ein Mitglied der Organisation Narodnaja Wolja nicht bekannt. Später, als ich jene alten Bolschewiki unseres Hauses besuchte, die überlebt hatten, bekam ich trotzdem zu hören, dass ich die Enkelin des Wainers von der Narodnaja Wolja sei. Das ist zum Lachen und zum Weinen.
[2] Das Haus befindet im Bolschaja Gnesdnikowskij Pereulok 10. Architekt - Ernst-Richard Karlowitsch Nirnseje. Nach der Revolution nannte man das Haus „Viertes Haus des Mossowet“ (Viertes Haus des Moskauer Sowjets).