Die Bücher der bekannten Schriftstellerin aus Israel, Dina Rubina, sind bei der russischsprachigen Leserschaft beliebt. Dabei spielt es keine Rolle, wo man lebt; es sei denn, man hat selbst den schwierigen Weg der Auswanderung hinter sich.
In den Texten Rubinas gibt es Zeilen, die einem unter die Haut gehen: «Das fünfte Jahr denke ich über meine eigene Emigration nach. Ich habe kürzlich festgestellt, dass ich Tage und Nächte in Gedanken darüber verbringe. Als wenn mir erst jetzt diese Entscheidung bevorstehen würde“ (autobiographische Erzählung „Nahaufnahme“).
Die neue Heimat macht es uns nicht leicht: Man muss die Fremdsprache erlernen, sich am neuen Ort einleben und an eine andere Mentalität gewöhnen. Das ist aber noch lange nicht alles: Man wird von Sorgen, Zweifeln und Erinnerungen geplagt. Diese ständige schwere Arbeit hört nicht einmal im Traum auf; wieder und wieder versuchen wir uns selbst, die Richtigkeit der einst getroffenen Entscheidung zu beweisen...
In der Erzählung „Nahaufnahme“ berichtet Rubina von solchen Momenten: „Ich denke, man muss bei sich selbst für alles Rede und Antwort stehen. Man muss den Film des eigenen Lebens wieder und wieder hin- und zurückspulen und sich einige Bilder besonders genau ansehen. Normalerweise macht hier die Kamera Fahrt und sie werden groß als Nahaufnahme gezeigt“.
Das genaue Betrachten des eigenen Schicksals, das intensive Beschäftigen mit den Gedanken darüber – alles mit dem Ziel, den eigenen Platz an der Sonne wiederzuerlangen – genau das tun die meisten unserer Landsleute über Jahre hinweg. Aber wir sind doch nicht die erste Generation, die eine solche Erfahrung machen musste! Die Antworten finden sich bestimmt in der Vergangenheit. Was lehren uns denn die Emigrationsberichte unserer Vorfahren?
Von der ersten Welle der Emigration aus Russland, die in den Jahren der Revolution stattfand, ist viel geschrieben und sind viele Filme gedreht worden. Die meisten der damals Betroffenen waren Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler. Manche schrieben ihre Erinnerungen nieder. Zu diesen Quellen zählen die brillanten Memoiren von I. Odoevčeva „An den Ufern der Seine“. Das Buch erzählt von besonderen Menschen, wie Ivan Bunin und Marina Čvetaeva ... Wir aber brauchen andere Beispiele, denn wir können uns leichter mit Durchschnittsmenschen identifizieren.
Überraschend frisch klingen in diesem Zusammenhang die Aufzeichnungen zur Emigrantentypologie von L. Lunc in „Reise auf meinem Krankenbett“. Der humorvolle und ironische Text entstand 1923, als der todkranke junge Schriftsteller nach Deutschland einreiste, um sich von hiesigen Ärzten behandeln zu lassen. Dieses Land war zuvor bereits für seine Eltern Wahlheimat.
Lunc definiert drei Arten von Emigranten: dollarorientierte Geschäftsleute, die sich nicht nach der Heimat sehnen, weil sie keine brauchen. Sie müssen nur dann an Russland zurückdenken, wenn sie sich wieder einmal daran erinnern, dass es irgendwo eine Wohnung gibt, deren Mobiliar schon längst zu Geldscheinen gemacht werden sollte. Die zweite Gruppe bilden die politischen Zwangsemigranten, für die es keinen Weg zurück gibt und die darunter sehr leiden. Die letzte und größte Gruppe (heute immer noch!) besteht aus denjenigen „Intellektuellen“, die alles Deutsche hassen, sich sehr unwohl in der Fremde fühlen und trotzdem nie in ihr Land zurückkehren. Denn es würde für sie bedeuten, wieder bei Null anfangen zu müssen. Irgendwo, ganz tief in ihrem Herzen, wissen sie jedoch, dass das Leben in Deutschland ihnen mehr Komfort bietet und mit weniger Entbehrungen verbunden ist. Dafür hassen sie es am meisten.
Fraglich ist, ob sich heute etwas geändert hat? Mal Hand aufs Herz, im Kreis unserer Bekannten finden sich Vertreter jeder Gruppe der Migrantentypologie nach Lunc, oder?
Ein weiteres Beispiel für einen modernen Versuch der Typologisierung der russischsprachigen Migranten in Deutschland liefert die Korrespondentin des „Vostočny Kurier“ („Der Ostbote“), T. Okamenjuk: „Ein Teil von ihnen (ein sehr übersichtlicher) hat sich leicht und gut integriert. Sie hatten von Anfang an keine Probleme mit der Sprache und Arbeitssuche. Das sind, in der Regel, hochqualifizierte Spezialisten, die mit einem Arbeitsvisum einreisen und im Land bleiben. Sie arbeiten in deutschen Unternehmen und Betrieben, wohnen unter Deutschen. Ihre Freunde und Bekannten wählen sie auch dort; die weniger erfolgreichen Landsleute werden gemieden. Sie lesen die deutsche Presse, konsumieren deutsches Fernsehen. Ihren Urlaub verbringen sie nicht im Herkunftsland, sondern bereisen Europa. Über sie sagt man, sie reisten bereits integriert ein.
Eine zweite, weitaus größere Gruppe und Art russischsprachiger Ausländer in Deutschland ist von Kontakten mit Einheimischen verschont geblieben. Sie besiedeln russische Ghettos, suchen nur russische Ärzte auf. Wenn sie überhaupt arbeiten, dann in russischen Firmen und Vereinen. Sie lesen nur auf Russisch, haben allein das russische Fernsehen zu Hause.
Die dritte Gruppe ist am größten. Sie nimmt zwischen den beiden ersten eine mittlere Position ein. Diese Menschen schreiben Briefe an die Redaktionen russischer Zeitungen, in denen sie sich über Gleichgültigkeit, Arroganz und Ablehnung seitens der Deutschen beschweren. Sie brauchen Kontakt zu den Einheimischen, sind aber aus unterschiedlichen Gründen nicht dazu fähig, ihn herzustellen und aufrechtzuerhalten.“ (aus: „Vostočny Kurier“, ¹114 - 07/2009: „Die Einheimischen: Freunde oder Feinde?“, aus dem Russischen: O. Koseniuk).
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"der Ausblick aus dem Fenster einer Mietwohnung" (2008) |
Unser Augenmerk richtet sich vor allem auf diese letzte Gruppe. Warum? Weil wir auch dazu gehören! Wir sind aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland gekommen und wollen es unsere neue Heimat nennen.
Wenn ich sage: „wir“, meine ich Menschen mittleren Alters (die Jungen sind ein Thema für sich). Wir sind zwar nicht mehr die Jüngsten, aber auch noch gar nicht alt. In unserem „ersten Leben“ außerhalb der deutschen Grenze haben wir einen Beruf erlernt oder sogar einen akademischen Titel verliehen bekommen. Wir haben viel Kraft und Energie in die Karriere gesteckt, waren auf dem Weg aufwärts... Hier, im neuen Land sind wir erst einmal wieder ganz unten angelangt und sind deswegen oft verwirrt und enttäuscht, wir fühlen uns ungerecht behandelt und beleidigt. Erkennen Sie dieses Bild wieder? Ein Cocktail aus mangelhaften Sprachkenntnissen, bitteren Niederlagen, verfeinert mit Ehrgeiz, der noch da ist, und einer hartnäckigen Suche nach Selbstverwirklichung.
Eine Zeit lang zählte sich auch Dina Rubina zu dieser Gruppe der russischsprachigen Auswanderer. Davon erfährt man in dem Buch „der Ausblick aus dem Fenster einer Mietwohnung“ (2008). Wie sich herausstellt, lassen sich die in diesem Buch beschriebenen Israel – Erfahrungen zweifellos auf ein anderes Land übertragen. Egal, wo sich die Handlung abspielt, ob in Israel oder in Deutschland, in beiden Fällen sind es ehemalige Sowjetbürger, die agieren.
Das Buch bilden drei Erzählungen. Im Zentrum der Komposition steht die bereits erwähnte „Nahaufnahme“. Als Rahmen dienen die Erzählungen „In deinen Toren“ und „Der letzte Eber aus den Wäldern Pontevedras“. Aus Zeitgründen konnten wir sie in unserem Literaturcafé nicht ausführlich behandeln (obwohl es sich auf jeden Fall lohnen würde). Wir haben uns einen Schwerpunkt gesetzt: die ehemaligen Sowjetbürger als Auswanderer.
Die Erzählung „In deinen Toren“ zeigt unsere Landsleute, denen die Sympathie der Autorin gilt. Sie sind offen, herzlich und hilfsbereit. Sie fühlen und weinen mit einem mit. Die, in diesen Menschen noch lebendigen Illusionen der Sowjetgesellschaft mit ihrem humanen Geist, verbinden sie zu einer Gemeinschaft. Im Ausland setzen sie im Grunde ihren Kampf für die Herstellung des Kommunismus fort und merken nicht einmal, dass weder Zeit noch Umstände stimmen. Daraus ergeben sich massive Anpassungsschwierigkeiten sowie der innere Konflikt: Sie haben nicht nur Sprachschwierigkeiten, ihre Lebensansichten und Erwartungen sind nicht adäquat. Das ist das Hauptproblem. Ein Beispiel liefert das Verhältnis der Hauptfigur zu den anderen Protagonisten: dem Chef (Jascha Christiansky), der Arbeitskollegin (Rita) und einem Obdachlosen – es umfasst alle Stufen der Hierarchie von oben bis unten.
— Sie können gehen, - erlaubte Jascha müde. Der Arbeitstag ist zu Ende. Und, um Gottes Willen, wieso umarmen Sie den ganzen Abend diesen Wasserkocher?
— Ach ja, - besonn ich mich. Hier, nehmen Sie. Ich versuchte, ihm den Kocher durch das Fenster zu reichen.
— Behalten Sie ihn einfach, - sagte Christiansky,- und Ende.
— Wie? Er ist doch Eigentum des jüdischen Weltkongresses.
— Nehmen Sie ihn doch, - unterbrach Jascha mich – nicht darum haben wir gekämpft, und der Weltkongress wird dadurch auch nicht ärmer. Außerdem wird Brombardt Ihnen kein Gehalt zahlen und ich habe mit Ihnen keinen Arbeitsvertrag abgeschlossen. Also, haben Sie den blöden Wasserkocher mit Recht verdient, finden Sie nicht? Eigentlich, ist das der höchstmögliche Preis für Ihren ganzen Beitrag.
Ich drehte mich um und ging, den Wasserkocher fest gegen die Brust drückend, den vertrauten Weg an der zentralen Bushaltestelle vorbei.
„Mein“ Obdachloser, ein großer, ansehnlicher, von weitem gut sichtbarer Mann, belästigte die Passanten, indem er sie mit der ausgestreckten harten Handfläche wie mit einer Schippe der Pioniersoldaten in die Seite stieß. Ich näherte mich ihm und legte in diese unbiegsame Hand einen der beiden Schekel, die ich noch hatte ...
— Hast du Kinder? – fragte ich plötzlich mit einem idiotisch-sentimentalen Lächeln.
Der Obdachlose lies seine buschigen Augenbrauen hochfahren ... sah mich ganz aufmerksam von Kopf bis Fuß an und sagte deutlich:
— Wenn du denkst, dass ich dich für deinen Scheiß-Schekel in den Arsch küssen werde, irrst du dich.
— Richtig, - sagte mir Rita ein paar Tage später. Du wolltest mit ihm einen informellen Kontakt aufbauen und er hat dich zurückgewiesen. Versteh doch, sie haben eine ganz andere Mentalität. Seine Aufgabe ist es, die Hand auszustrecken, deine – den Schekel hineinzulegen. Was hat die Tatsache, ob er Kinder hat, damit zu tun? Was sind das alles für Empfindlichkeiten der russischen Literatur? ... Aber wenn dich das wirklich quält, kann ich dich beruhigen: Seine Kinder bringen Papa jeden Tag mit einem „Citroen“ zur Arbeit und holen ihn abends mit seinem Bettlergewinn ab.
In den ersten Jahren im Ausland kann man es sich nicht leisten, wählerisch zu sein, was die Jobangebote betrifft. Man beschäftigt sich oft mit etwas, das man im Grunde nicht gut kann, zum ersten Mal in seinem Leben tut, oder wofür man eigentlich gar kein Interesse mitbringt. Als die Hauptprotagonistin Rubinas, in der Vergangenheit eine bekannte Schriftstellerin, sich für einen Arbeitsplatz bewarb, für den sie, übrigens, am Ende kein Entgelt bekommt, riet man ihr gar darüber zu schweigen, dass sie etwas kann und weiß. Sie musste sich als „ein Dämchen mit Strohfüllung“, als eine volle Niete präsentieren. Gewiss ist das leichter gesagt als getan.
Am Morgen schleppte ich mich zur Arbeit, wo das Verhältnis zwischen mir und Christiansky immer gespannter wurde.
Das lag daran, dass es sich auf eine ganz skandalöse Weise herausgestellt hatte, dass ich doch kein „Dämchen mit Strohfüllung“ bin.
Katja verriet mich, indem sie plötzlich, meinen Vornamen und Namen in Zusammenhang brachte und mich fragte, ob ich diejenige wäre, deren Erzählungen sie da und dort während ihrer rebellischen Jugend lesen durfte. Mit saurem Gesichtausdruck stimmte ich zu.
Jaschas Miene wurde so süß, dass ich sofort begriff: In der Firma „Tim`ak“ werde ich nicht mehr lange überleben. Zehn Minuten später bestellte mich Jascha zu sich, zwecks Prüfung meiner Korrektur der neuen Broschüre. Er strich „aufgewacht“ durch, schrieb „erwacht“ ein und tauschte „Du gabst uns alles Nötige“ gegen „Du versorgtest uns mit allem Nötigen“ aus, und, etwas vor sich hin summend und mit den großen Fingern die Riemen seines Portepees lockernd, riet er mir liebevoll, mein Gefühl für das literarische Wort zu schulen. Obwohl, meinte er, wie kann man etwas, das man nicht besitzt, trainieren, was er übrigens schade finde: Schriftstellerin hin oder her, das Russische müsste man trotzdem beherrschen…
Von diesem Moment an wusste ich, dass sich Jascha auf den Kriegspfad begab.
Es ist gut möglich, dass viele von uns am Anfang der Karriere in der Wahlheimat mit solchen Problemen konfrontiert worden sind. Man kann aber mit Sicherheit darauf wetten, wenn der Chef dein Landsmann ist.
Einmal, als wir alle friedlich in unseren Kabinen saßen und arbeiteten, rief mir Jascha plötzlich zu:
— Was ist das doch für eine entzückende Melodie, diese „Cherubinos Arie“, finden Sie nicht? Und er fing an zu pfeifen: „Non più andrai, farfallone amoroso“ („Dort vergiss leises Flehn, süßes Kosen“)
— Das ist eine Arie aus dem Figaro, - berichtigte ich automatisch. In diesem Moment waren alle Kräfte meines erschöpften Verstandes auf den Kampf mit Mara Druk gerichtet. Eins der Kapitel ihrer Memoiren betitelte sie so: „Ein Knebel im Mund bezwingt nicht die Gedanken“ und ich suchte nach einer Möglichkeit, den Titel ein wenig zu verschönern.
Jascha gab seinen berühmten Nasenlacher von sich und sagte freundlich:
— wie ich sehe, hat Mara eine schlechte Wirkung auf Sie. Jeder Schüler weiß, dass es eine Arie von Cherubino ist ...
Es ist peinlich zuzugeben, aber das Blut schoss mir in den Kopf und ich fühlte einen Krampf des Hasses, ja, ja, nämlich eines echten Hasses auf ihn und es ist mir immer noch peinlich.
Ich sprang auf und rannte aus meiner Kabine.
— Hören Sie, Jascha, - sagte ich, während ich vergeblich versuchte, nach außen ruhig zu wirken. – Wenn Ihr geniales Gedächtnis Sie nicht täuscht, habe ich einen musikalischen Hochschulabschluss. Ich rate Ihnen nicht, mich in diesem Bereich herauszufordern. Sie sollten endlich akzeptieren, dass ich in einigen Dingen doch kompetenter bin als Sie.
— Ach, ja! Ein Hochschulabschluss! – antwortete er mit einem zärtlichen Augenzwinkern. Ja, ja, ein sowjetisches Diplom, die Grundlagen des Kommunismus! Ich bin bereit, mit Ihnen eine Wette einzugehen, dass diese Melodie, - und er pfiff noch mal sehr sauber, genau und angenehm, - ist nichts anderes, als eine Arie Cherubinos. So können Sie vielleicht sogar ihre Bildung vervollständigen!
— Wetten, - nickte ich und wurde innerlich wie gläsern, mich packte ein böses Eifergefühl.
— Setzen wir 100 Schekel? – fragte er höhnisch.
— Nein, - antwortete ich. 100 Schekel gebe ich, wenn Sie Recht haben. Wenn ich gewinne, möchte ich Ihnen in Gegenwart von Jeguda Kronin eine mit dem Manuskript von Mara Druk reinhauen.
— Wie bitte? – fragte er erstaunt.
…Der Ausdruck meines normalerweise loyalen Gesichts hatte ihn in Verlegenheit gebracht und sogar ein wenig erschreckt, so wie auch das Manuskript von Mara als Waffe.
— Na gut, - murmelte er, - ich glaube Ihnen.
Welche Erklärungen gibt es denn für dieses Verhalten? Ist es der Wunsch, sich auf Kosten der anderen wichtig zu machen? Gut möglich. Konkurrenzangst? Auch vorstellbar. Wie geht man aber als „Opfer“ damit um? Es ist klar, dass einem die Nerven blank liegen. Auf Dauer kann man solchen Druck kaum aushalten und möchte sich am liebsten zu Hause festbarrikadieren und nichts mehr tun, vor allem, nicht denken. Enttäuschung geht bald in Depression über. Gut nur, dass es nicht ewig kriseln kann. Mit der Zeit findet sich die Entscheidung wie von allein. Neue Menschen, neue Eindrücke, vielleicht sogar ein neuer Arbeitsplatz helfen einem aus der Krise.
Viele kommen zu dem Entschluss, dass es einfacher und bequemer sei, sich eine wildfremde Beschäftigung zu suchen, die einem zwar keinen Spaß macht, aber auch weniger Einsatz verlangt. „Wozu muss ich mich hier so anstrengen? In meinem vorherigen Leben war ich anders, hier zählt das nicht“. So beobachtet die Protagonistin Rubinas („Der letzte Eber aus den Wäldern Pontevedras“), als sie für drei Monate im Haus der Kultur „Matnas“ landet, mit Staunen die Arbeitsberatung. Dabei hört sie sich die Erläuterungen der Kollegin Taisija an.
- Oder der da, - sie (Taisija) zeigte mit den Augen auf Schimon, einen Mann mit halbrundem Rücken im Jogginganzug. Man kann sich kaum etwas weniger Sportliches vorstellen, als diesen Koordinator der Sportprogramme. Er ist nicht dumm, aber sehr, über alle Maße hinaus, einfach schrecklich faul. Alle die hiesigen „Einwohner“ sind dadurch gekennzeichnet, dass sie genau das machen, wovon sie nämlich keine Ahnung haben. Zum Beispiel, Awi… Sag mal, was hat der mit dem Swimmingpool am Hut, er kann ja nicht mal schwimmen! Leise, schrei doch nicht so. Fakt ist: er kann nicht schwimmen. Denkst du, vielleicht Alfonso kann leiten oder versteht irgendwas vom Management eines Gasofens oder gar eines Hausschuhs? Denkst du, Adel hat eine Ahnung von Finanzen? Sie hat nicht einmal einen Schulabschluss, wenn ich mich nicht irre...
Es stimmt, dass es nichts Dauerhafteres gibt als eine Übergangssituation. Jeder, der einst in einer der ehemaligen Sowjetrepubliken lebte, kennt das. Daher ist es kein Zufall, dass das „Matnas“ bei Rubina einem sowjetischen Amt aus Brežnevs Zeiten sehr ähnelt.
... künftig setzte der Direktor für eine Menge an Arbeit immer viel zu knappe Fristen fest und alle Versammlungen erklärte er für „ungewöhnlich kurz“, jedoch nahmen sie mehrere Stunden in Anspruch. Urteilen sie doch selbst: Alle mussten zu Wort kommen. Die Ergebnisse der vergangenen Woche und Pläne für die Zukunft mussten der Runde mitgeteilt und besprochen werden. Das Ganze unterbrachen die unendlichen und erbitterten Zankereien der Mitarbeiter untereinander. In der Regel waren Fehler und Mängel in der Arbeit des einen der Grund, echter oder vermeintlicher, für die Fehler und Mängel des anderen. Im Großen und Ganzen waren die Streitereien völlig belanglos. Hinzu kommt, dass jedes Mal ein empörender Vorfall festgestellt worden war, und man musste sich lang und ausgiebig damit befassen.
Ein geregelter, aber sinnloser Zeitvertrieb hilft, der Plage der Gedanken zu entkommen, hat jedoch oft unangenehme Konsequenzen zur Folge. Warum fühlt sich der Direktor des Hauses der Kultur (Alfonso) im Recht, seine Untergeordneten bei jeder Gelegenheit anzuschreien? Warum konnten hier Anfälle der „monarchischen Wut“ zur Tradition werden? Keiner ist deswegen empört oder gar verwundert! Alle (oder fast alle) Mitarbeiter leiden an der „Dienerkrankheit“, die sich bei einem solchen Lifestyle, leider, nicht vermeiden lässt.
Während der Lektüre der Erzählung ertappt man sich bei dem Gedanken, dass die Protagonisten ganz in unserer Nähe leben. Man erkennt in ihnen seine Bekannten wieder, beispielsweise in dem sich selbst ausspielenden, liebreichen Alfonso, der von seiner absoluten Überlegenheit überzeugt ist. Nicht umsonst heißt sein Motto, das auf der Lieblingstasse zu lesen steht: „Dem Allerbesten fällt Bescheidenheit schwer“. Oder in „der unzurechnungsfähigen Wahrheitskämpferin Taisija“, die dem erstaunten Spießbürger Worte der nackten Wahrheit ins Gesicht schleudert. Dabei vergisst sie gleich, wozu das ganze Theater... Ein Hofnarr, Hofdamen und die „Habanera“ von Carmen in jedem Konzert für Rentner…
Die Events der „Koordinatorin von Kulturprogrammen“, „Dina von Matnas“, in Israel sind dieselben, wie sie die meisten Ausländervereine Leipzigs anbieten: Sängerauftritte, Kunstausstellungen der Auswanderer und Schönheitswettbewerbe. Sogar die Namen der Druckerzeugnisse stimmen überein: „Der Nahostkurier“ bei Rubina und „Ostkurier“ in Sachsen.
Die Hauptfigur der Erzählung „Der letzte Eber aus den Wäldern Pontevedras“, „Dina von Matnas“, hat wenig Ähnlichkeit mit der ängstlichen und traurigen Protagonistin von „In deinen Toren“. Sie hat sich an die neuen Lebensbedingungen angepasst, mit ihrer Lage arrangiert und steht über den unwichtigen Dingen. Sie wird bestimmt nicht lange im „Matnas“ bleiben. Dieser Arbeitsplatz ist für sie nur eine der vielen Zuverdienstmöglichkeiten und, vor allem, eine hervorragende Quelle der Eindrücke für ihre Hauptbeschäftigung, das Schreiben. Wir wissen doch, wie es so schön bei Puškin heißt: „Solang Apollo den Poeten Zum heiligen Opfer nicht berief, Steckt der voll Kleinmut und betreten In eitlen Erdensorgen tief“ („Der Poet“).
Die Teilnehmer des Literaturtreffens stellten die erstaunliche Ähnlichkeit der eigenen Erfahrungen mit den Themen, Ideen und allgemein der literarischen Welt der Werke der „bekannten Schriftstellerin N“ fest. Klar, man kann stets den Weg des geringsten Widerstands wählen. Aber man ist durchaus fähig, viel mehr zu erreichen. Die Bücher von Dina Rubina ermutigen und geben Rat in vielen komplizierten Lebenslagen. Zwar bieten sie keine fertigen Rezepte, wie man am besten an seinen Lieblingsjob kommt. Das wäre aber auch unmöglich, denn dazu gehören nicht nur fester Wille, sondern auch ein kleines bisschen Glück. Eines ist zweifelsohne festzuhalten: die Probleme der heutigen Auswanderer sind womöglich noch komplexer als die ihrer Vorgänger!
Übersetzung: Olga Koseniuk